Interview

„Bürokratieabbau ist Kärrnerarbeit“

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Chef der Staatskanzlei Staatssekretär Dr. Florian Stegmann bei der Schaltkonferenz der Lenkungsgruppe „SARS-CoV-2 (Coronavirus)“
Der Chef der baden-württembergischen Staatskanzlei, Staatssekretär Dr. Florian Stegmann

Im Doppelinterview mit der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten sprechen Kanzleramts-Staatsminister Hendrik Hoppenstedt und der baden-württembergische Staatskanzleichef Florian Stegmann über Bürokratieabbau und Verwaltungsmodernisierung.

Hendrik Hoppenstedt koordiniert als Staatsminister im Kanzleramt für die Bundesregierung den Bürokratieabbau. In Baden-Württemberg fällt Staatssekretär Florian Stegmann als Chef der Staatskanzlei diese Aufgabe zu.

Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten: Herr Hoppenstedt, Herr Stegmann, Sie arbeiten in bürokratischen Apparaten. Leiden Sie selbst unter Auswüchsen?

Florian Stegmann: Leiden würde ich nicht sagen. Aber wir führen gerade die elektronische Akte ein. In der Übergangsphase bekomme ich vieles auf Papier und elektronisch – also doppelt. Das kann schon mal nerven. Aber das ist ja nur für eine überschaubare Zeit so, und am Ende steht ein großer Gewinn.

Hendrik Hoppenstedt: Ich erlebe in meinem Arbeitsalltag keine überbordende Bürokratie. Im Kanzleramt geht es eigentlich unbürokratisch zu, etwa beim Homeoffice. Aber durch meine Zuständigkeit ist mir wohl bewusst, dass viele es anders erleben.

Im Augenblick sorgen vor allem fast pedantisch formulierte Corona-Verordnungen für Unmut.

Stegmann: Diese Regelungen sind eine Belastung für uns alle, weil sie zum Schutz unser aller Gesundheit in alle Lebensbereiche hineinwirken. Wichtig ist aber: Sie sind befristet. Sobald wir sagen können, dass wir die Pandemie unter Kontrolle haben, werden wir sie unverzüglich aufheben.

Haben bürokratische Strukturen nicht auch schnelles Reagieren erschwert?

Hoppenstedt: Gerade digital hätten wir vor Corona weiter sein müssen. In Krisenzeiten zeigt sich aber, dass Deutschland eine leistungsstarke Verwaltung hat. Vor der Pandemie angelegte Vorhaben wurden jetzt massiv beschleunigt.

Stegmann: Die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hat sicher Schwächen und Stärken offengelegt. Insgesamt bin ich aber stolz darauf, wie in der Krise angepackt wurde. Beim Digitalisieren von Verwaltungsdienstleistungen hat es durch Corona in Baden-Württemberg beispielsweise einen richtigen Schub gegeben.

„Riesensprung gemacht“

Wo zum Beispiel?

Stegmann: Das Onlinezugangsgesetz verpflichtet uns, bis Ende 2022 Verwaltungsdienstleistungen auch online anzubieten – durch Corona kommen wir dem Ziel schneller näher. Wir haben zum Beispiel einen Schnellbaukasten entwickelt, mit dem Kommunen in kurzer Zeit digitale Angebote aufsetzen können. Über das Portal „www.service-bw.de“ lassen sich inzwischen mehr als 300 staatliche Dienstleistungen erledigen. Zu mehr als tausend Verwaltungsleistungen gibt es online konkrete Informationen. Da haben wir in den vergangenen Monaten einen Riesensprung gemacht.

Wie ist das beim Bund?

Hoppenstedt: Diese Regierung hat ein gutes Fundament gelegt, auf dem wir nun immer schneller aufbauen können. 300 der 575 Verwaltungsleistungen, die wir mit Ländern und Kommunen digital anbieten wollen, sind zumindest teilweise schon verfügbar. Wir entschlacken die Abläufe dahinter – man muss nicht digitalisieren, was analog keinen Sinn ergibt. Wir geben drei Milliarden Euro für die Registermodernisierung aus – dies wird für eine große Bürokratieentlastung sorgen.

Können Sie das übersetzen?

Hoppenstedt: Im Verwaltungshandeln wird ständig auf eines der mehr als 200 Register mit den Daten der Bürger und Unternehmen zurückgegriffen. Leider ist es noch so, dass Sie auf dem Einwohnermeldeamt die gleichen Daten abgeben müssen, die Sie dem Finanzamt schon gegeben haben. Viele Bürger empfinden das als lästig, weshalb es so wichtig ist, dass die Register miteinander verbunden sind. Das dafür notwendige Gesetz soll noch in dieser Woche vom Bundestag verabschiedet werden – im Februar hoffentlich auch vom Bundesrat.

Stegmann: Die Registermodernisierung unterstützen wir in Baden-Württemberg ausdrücklich. Dass die Bürger künftig nur noch eine Identifikationsnummer für ihre Verwaltungsgänge brauchen, ist ein wichtiger Schritt. In Baden-Württemberg arbeiten wir gemeinsam mit dem Normenkontrollrat Baden-Württemberg bereits daran, den Weg für das Prinzip „Once Only“ zu ebnen: Daten sollen so weit wie möglich nur noch einmal abgegeben werden müssen, der weitere Austausch soll behördenintern laufen können. Ein Gutachten bereitet das gerade vor..

Zeichnen Sie nicht ein allzu positives Bild? Deutschland schneidet im Vergleich schwach ab, in den Gesundheitsämtern herrscht die Zettelwirtschaft.

Stegmann: Die Gesundheitsämter waren nicht auf eine Pandemie wie Corona vorbereitet, aber das war niemand. Im Gesundheitsbereich haben wir es aber schnell geschafft digitale Instrumente einzuführen, beispielsweise um tagesaktuell einen Überblick über freie Intensivbetten zu erhalten.

Hoppenstedt: Wir unterstützen die Digitalisierung der Gesundheitsämter mit Hochdruck und treiben die Einführung einer Software zur Kontaktnachverfolgung voran. Das ist nicht einfach, weil sie gerade so viel zu tun haben.

Der Normenkontrollrat kritisiert, Bund und Länder hätten ihre Hausaufgaben nicht gemacht mit einem Unternehmenskonto etwa hätten die Corona-Hilfen reibungsloser ausgezahlt werden können. Was entgegnen Sie?

Hoppenstedt: Wir verdanken dem Normenkontrollrat bei vielen Gesetzen, dass Bürokratie erst gar nicht entstanden ist. Gerade erst haben Bund und Länder den Vorschlag übernommen, Neuregelungen zusätzlich von kommunalen Verwaltungsfachleuten und IT-Experten auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüfen zu lassen. Das Unternehmenskonto ist auch eine gute Idee. Allerdings handelt es sich um ein komplexes Projekt, bei dem auch Datenschutz und Datensicherheit für die Unternehmen gewährleistet sein müssen. Deshalb lässt sich so etwas leider nicht über Nacht bewerkstelligen.

Bürger und Unternehmen erzeugen selbst die Bürokratie?

Hoppenstedt: Es ist paradox. Fragt man abstrakt „Willst du Bürokratieabbau?“, sind alle dafür. Wird es konkret, gibt es plötzlich viele Fürsprecher für jede einzelne Regel. Unsere Gesellschaft fokussiert sich außerdem immer stärker auf die Gerechtigkeit gegenüber Einzelnen. Das führt zu komplexeren Umsetzungsvorschriften.

Stegmann: Bürokratieabbau ist reinste Kärrnerarbeit. Die Erwartungen, die an uns von allen Seiten herangetragen werden, sind enorm. Man muss da mit viel Energie rangehen, weil das für die Akzeptanz staatlichen Handelns und gegen Staatsverdrossenheit wichtig ist. Wir fangen zum Glück nicht bei Null an. Das Thema ist bei uns schon lange Chefsache. Baden-Württemberg hat auch als einziges Bundesland nach dem Vorbild des Bundes einen Normenkontrollrat eingesetzt, der wertvolle Impulse gibt, zuletzt zu Vereinfachungen beim Brandschutz oder zu Entlastungen für das Bäckerhandwerk.

„Am effektivsten ist Bürokratieabbau, wenn Bürokratie erst gar nicht entsteht“

Was ist die zentrale Aufgabe?

Stegmann: Am effektivsten ist Bürokratieabbau, wenn Bürokratie erst gar nicht entsteht. Außerdem müssen wir immer fragen: Erzeugt Landes-, Bundes- oder EU-Recht den Aufwand? Wenn wir zuständig sind, müssen wir schauen, wie wir Regelungen am einfachsten hinbekommen. Man darf aber nicht vergessen: Bürokratie kommt nicht nur vom Staat. Auch DIN-Normen oder das Kleingedruckte im Handyvertrag empfinden die Bürger als belastend.

Welche Fortschritte haben Sie jenseits der Digitalisierungsfrage gemacht?

Stegmann: Sie sind größer als allgemein wahrgenommen: Der Bund allein hat die Wirtschaft 2019 um fast eine Milliarde Euro entlastet. In Baden-Württemberg waren es für die Wirtschaft rund 60 Millionen Euro, für die Bürgerinnen und Bürger rund 34 Millionen Euro. In Zahlen nimmt die Belastung also ab.

Hoppenstedt: Seit 2015 haben wir auf Bundesebene das Prinzip „One In, One Out“. Das bedeutet: für jede neue gesetzliche Regelung, die bürokratische Belastungen erzeugt, muss an anderer Stelle eine Entlastung stehen. Das funktioniert inzwischen so gut, dass wir heute bei „One In, Three Out“ sind. Wir entlasten dreimal mehr als wir neu an Bürokratie dazu packen. Wenn ich das aber meinem Bäcker um die Ecke erzähle, schaut der mich an, als käme ich von einem anderen Planeten. Er empfindet die Situation völlig anders.

Warum fällt das so auseinander?

Hoppenstedt: Wie Herr Stegmann schon gesagt hat, stellen alle möglichen Ebenen Regeln auf, die mein Bäckermeister erfüllen soll, obwohl er eigentlich nur Brötchen backen will. Wir können ihm aber nur richtig helfen, wenn sich alle Akteure gemeinsam um den Abbau von Bürokratie bemühen. Ich bin deshalb sehr froh, dass die neue EU-Kommission sich auch das Prinzip „One In, One Out“ zu eigen machen will. Auch mit den Ländern habe ich eine gemeinsame Agenda zum Bürokratieabbau verabredet.

Geht es neben Paragrafen und Prozessen nicht auch um die Sprache, mit der der Staat seinen Bürgern begegnet?

Stegmann: Absolut. Wer ist nicht schon mal verzweifelt, als er ein Verwaltungsformular ausfüllen sollte. Manchmal würde Bürokratie schon dadurch vermieden, dass wir Texte so formulieren, dass man sie auch versteht. Das schauen wir uns in Baden-Württemberg gerade genauer an. Eine Maßnahme unter vielen: Wir bieten mit dem Normenkontrollrat Schulungen für Landesbedienstete an, damit behördliche Texte so geschrieben werden, dass man sie versteht, ohne Jurist zu sein.

Corona schröpft die Staatsetats, für teure Konjunkturprogramme dürfte danach das Geld fehlen. Muss nun der Bürokratieabbau Wachstum schaffen?

Stegmann: Abbau von Bürokratie ist da kein Allheilmittel, aber es kann wirksam helfen.

Hoppenstedt: Krisen wie Corona bieten, bei allem Leid, das sie erzeugen, auch eine Chance. Wir loten gerade mit unserem Koalitionspartner ein viertes Bürokratieentlastungsgesetz aus. Ich hoffe, dass wir damit gemeinsam mit der SPD wichtige Impulse für den Aufschwung nach der Krise geben können.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, mit dem schnell und wirksam Bürokratie abgebaut würde, welcher wäre das?

Hoppenstedt: Mein Wunsch wäre ein wirksames „One In, One Out“-System von der EU bis zu den Ländern. Dadurch würden bürokratische Regeln nicht nur beim Bund, sondern auf allen staatlichen Ebenen ständig auf den Prüfstand kommen.

Stegmann: Ich wünsche mir, dass man in Baden-Württemberg bis Ende des Jahres fast alle wichtigen Dinge bei den Ämtern digital beantragen kann. Und ich bin optimistisch, dass wir das hinbekommen.

Das Gespräch führten Rainer Pörtner und Christopher Ziedler.

Staatsministerium: Bürokratieabbau

Bundesregierung: Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau

Quelle:

Das Interview erschien am 26. Januar 2021 in der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten.