Bürokratie abbauen, um beim Ausbau der erneuerbaren Energien endlich schneller zu werden – das hat sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann vorgenommen. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“ betont der Regierungschef auch die Rolle Baden-Württembergs im Streit zwischen der EU und der Schweiz.
Schwäbische Zeitung: Herr Kretschmann, mit einem Rahmenabkommen sollten zahlreiche bilaterale Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) gebündelt und weiterentwickelt werden. Die Schweiz hat im Mai die Verhandlungen nach sieben Jahren platzen lassen. Sie gelten als großer Freund der Schweiz, Baden-Württemberg ist wirtschaftlich, politisch wie auch menschlich eng mit dem Nachbarland verwoben. Wie geht es nun weiter?
Winfried Kretschmann: Dass die Schweiz so plötzlich und ohne Vorankündigung aus den Verhandlungen aussteigt, hat alle überrascht. Vor allem habe ich auch den Eindruck, dass die Schweiz keinen Plan B hat. Die bilateralen Verträge gelten zwar erstmal weiter. Aber es ist eben wie beim Smartphone. Wenn ich das nicht mehr update, veraltetet es mit der Zeit. Die Welt entwickelt sich weiter und dann kann es passieren, dass nach und nach diese Verträge nicht mehr aktuell sind. Letztlich bedeutet so eine Stagnation heutzutage immer einen Rückschritt. Auf der Strecke bleiben vor allem wichtige Zukunftsthemen wie Gesundheit und Energie- bzw. Stromversorgung.
Vermittler zwischen der EU und der Schweiz
Zum Teil ist ja schon eingetreten, wovor gewarnt wurde. Die Europäische Kommission hat im Juli Bern informiert, dass die Schweiz bei den Eingaben von Forschungsprojekten für Horizon Europe und damit verbundenen Programmen und Initiativen als nicht-assoziierter Drittstaat behandelt wird. Ist das eine logische Folge der Entscheidung?
Kretschmann: Der Schweizer Botschafter hat mir nochmal deutlich gemacht, dass sich die Schweiz da nicht korrekt behandelt fühlt. Hierzu befinden wir uns auch bereits in Gesprächen mit der EU. Das machen wir auch gerne, wir sehen uns ja immer ein bisschen als Vermittler zwischen der EU und der Schweiz. Es ist auf jeden Fall ein zentrales Anliegen, dass die Schweiz beim EU-Forschungsprogramm Horizont Europa möglichst weitreichend teilnimmt. Man sieht an diesem Beispiel übrigens auch, wie wichtig das Rahmenabkommen umgekehrt auch für die EU ist. Die künstliche Intelligenz (KI) ist eine der Schlüsseltechnologien der Zukunft. Die Schweiz ist ein führender Forschungsstandort in diesem Bereich und hat mit der ETH Zürich einen Hotspot, ebenso wie Großbritannien. Wir können im Forschungsverbund eigentlich nicht auf diese wichtigen Partner mit ihren exzellenten Wissenschaftsinstitutionen verzichten. Wir haben gerade ein Memorandum of Understanding für eine KI-Allianz mit unseren Schweizer Partnern unterzeichnet. Solche europäischen Allianzen sind ganz entscheidend für unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit.
Ich hoffe, dass die Schweiz möglichst bald an Alternativen arbeitet und Vorschläge macht, wie sie sich das künftige Verhältnis zur EU vorstellt. Die Schweiz ist nun mal ein Kernland in Europa, sie teilt mit uns dieselben Werte. Die Schweiz ist, was den Import betrifft, unser wichtigster Handelspartner, was den Export betrifft, der drittwichtigste. Auch deshalb wollen wir keinen Bruch mit der Schweiz.
Für die Zusammenarbeit positive Impulse setzen
Andreas Schwab (CDU), Vorsitzender der Schweiz-Delegation im Europaparlament, sprach von einem „beträchtlichen Flurschaden“ durch den Schweizer Bundesrat. Mehr als sieben Jahre Verhandlungen seien „sinnlos vergeudet worden“. Es hätten sich „einige wenige Hardliner in der Schweizer Verwaltung durchgesetzt, die bei einer Volksabstimmung wohl verloren hätten“. Wie ist die Stimmung zwischen den Verhandlungspartnern?
Kretschmann: Ich will da kein Öl ins Feuer gießen. Wir haben uns in Baden-Württemberg vorgenommen, unsere Schweiz-Strategie fortzuschreiben und so für die konkrete Zusammenarbeit positive Impulse zu setzen. Alle Seiten haben ein sehr vitales Interesse daran, dass die Schweiz sich nicht von der EU entfernt. Die Verflechtungen sind viel zu eng und wir können uns das nicht erlauben, gerade im Bereich von Forschung und Entwicklung. Und man darf auch nicht vergessen: Die Schweiz ist in vielen Hinsichten ein sehr verlässlicher Partner, da haben wir in der EU mit Polen oder Ungarn derzeit ganz andere Baustellen, was etwa das Thema Rechtsstaatlichkeit betrifft. Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, dass wir im nächsten Schritt nicht das Trennende, sondern die beidseitigen Vorteile stärker herausarbeiten.
Wenn Sie hierzulande für den langsamen Ausbau von Erneuerbaren Energien kritisiert werden, zeigen sie oft nach Berlin. Die Vorschriften, die vom Bund kommen, seien oft viel zu bürokratisch, sagen sie dann. Bringen Sie diesen Punkt in Berlin ein?
Kretschmann: Der Bürokratieabbau war ein sehr großes Thema bei den Sondierungsverhandlungen. Das habe ich kraftvoll eingebracht. Das Thema brennt mir einfach unter den Nägeln. Die Windkraft ist dafür exemplarisch: Die Wissenschaft sagt uns, wir haben ein Zeitfenster von zehn, maximal 15 Jahren. Wir müssen also, was den Klimaschutz angeht, viel schneller werden. Wir müssen das Tempo mindestens verdreifachen, weil wir momentan einfach viel zu langsam sind. Schauen wir mal in die Schweiz. Die nimmt Milliarden in die Hand, baut einen riesigen Lugano-Tunnel und ist längst fertig mit ihrem Teil der Trasse. So weit sind wir in zehn Jahren noch nicht. Anderes Beispiel: Schon als ich in den Landtag kam, wurde über die Elektrifizierung der Südbahn geredet. 40 Jahre ist das her.
Früher hat die Welt vielleicht noch auf uns gewartet, weil wir tolle Produkte gemacht haben, die andere nicht so hinbekommen haben. Jetzt wartet die Welt nicht mehr auf uns. Wir stehen global in einem enormen Wettbewerb. Und wenn wir es nicht schaffen, schneller zu werden und Prozesse zu entbürokratisieren, wird der Standort Deutschland ins Hintertreffen geraten. Deshalb bin ich inzwischen so unnachgiebig bei dem Thema.
Bei Umsetzung und Genehmigungen schneller werden
Im Land soll jetzt eine Task Force dafür sorgen, dass es schneller geht mit der Verwaltung, zum Beispiel beim Ausbau der Windkraft. Dabei ist das Land laut Normenkontrollrat nur für sechs Prozent der Bürokratie verantwortlich …
Kretschmann: Wir können aber bei der Umsetzung und den Genehmigungen schneller werden. Bei der Frage, wie das Recht ausgelegt wird, ist zum Beispiel auch in unseren Behörden ein Umdenken erforderlich. Wir dürfen nicht immer auf maximale Sicherheit gehen, sondern müssen vielleicht manchmal auch ein paar Risiken in Kauf nehmen. Momentan ist es in der Politik viel lohnender, Fehler zu vermeiden als innovativ zu sein. Das kann doch nicht sein!
Was heißt das konkret?
Kretschmann: Bei der Windkraft wollen wir zumindest eine Halbierung der Zeit von der Idee bis zur Umsetzung erreichen. Das ist ambitioniert, aber es ist unbedingt notwendig und deshalb mache ich das gerade zur Chefsache.
Sie stehen auch in der Kritik, weil in der Verwaltung viele neue Stellen geschaffen werden. Aber schaffen mehr Bürokraten nicht auch mehr Bürokratie?
Kretschmann: Nein. Das ist ein Vorurteil. Die neue Medizinprodukteverordnung ist nicht durch ministeriale Bürokraten entstanden, sondern in Folge des Skandals um Brustimplantate aus billigem Silikon in Frankreich. Das ist ein typischer Reflex: Es passiert ein Skandal und dann rollt die Regulierungsmaschinerie an, damit ja nichts mehr passieren kann. Natürlich ist Patientenschutz und das Vorsorgeprinzip enorm wichtig, aber man kann nicht jedes Risiko ausschließen. Wir brauchen die optimale, nicht die maximale Sicherheit. Da braucht es eine bessere Balance.
Aber welche Hebel hat das Land Baden-Württemberg überhaupt, um auf Brüsseler Entscheidungen Einfluss zu nehmen?
Kretschmann: Die Europäische Union lebt davon, dass sich die Regionen, die Bürgerinnen und Bürger aktiv einbringen, und das machen wir an dieser Stelle auch. Wir liegen beim Innovationsindex der Regionen der EU regelmäßig auf Platz 1. Das ist in Brüssel bekannt. Alle wissen, wir sind die Mittelstandsregion. Der EU-Binnenmarkt ist für uns als Exportregion sehr wichtig. Wenn wir kommen und darlegen, dass eine Entscheidung der EU unseren mittelständischen Unternehmen und ihren Innovationen Schwierigkeiten bereitet, dann hat das schon Gewicht. Und wir zeigen ja auch ganz konkret Wege auf, was sich verbessern lässt, zum Beispiel durch spezielle Regeln für die Zulassung von medizinisch hochinnovativen Nischenprodukten.
Quelle:
Das Interview erschien am 20. Oktober 2021 in der Schwäbischen Zeitung.