Es gibt ein Recht auf eigene Meinung, nicht aber auf eigene Fakten, schreibt Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seinem Namensbeitrag für die Neue Züricher Zeitung. Er wirbt für einen zivilisierten Streit jenseits der Verrohung und einer überspannten politischen Korrektheit.
Die Bundestagswahl war eine Zäsur. Mit der AfD ziehen erstmals seit rund 60 Jahren Rechtsnationalisten in das bundesdeutsche Parlament ein. Damit vollzieht Deutschland eine Entwicklung nach, wie wir sie in vielen westlichen Staaten erleben. Das Gespenst des Populismus geht um, die Demokratieverächter erstarken. Das alles macht deutlich: Die liberale Demokratie befindet sich zunehmend in einer ernsten Vertrauenskrise. Allerorten beginnt der Zusammenhalt der Gesellschaften zu bröckeln, und die Spaltung nimmt zu.
Umbrüche prasseln auf uns herein
Wie konnte es zu der Krise kommen? Wir leben in unruhigen Zeiten. Fundamentale Umbrüche prasseln auf uns herein: von der Flüchtlingskrise über die Globalisierung bis zum Klimawandel, vom islamistischen Terrorismus über die digitale Revolution bis zur gesellschaftlichen Modernisierung. Das alles spielt sich gleichzeitig und mit rasantem Tempo ab. Und es belastet das gesellschaftliche Klima. Verunsicherung, Abstiegsängste, Furcht vor Überfremdung, Überforderung und Wut machen sich breit. Der Ton der öffentlichen Debatte wird rauer. Die Sehnsucht nach Halt, Orientierung und Sicherheit wächst. Die Populisten nutzen dieses gefährliche Gemisch und profitieren als Krisengewinnler davon.
Um die Demokratiekrise anzugehen und den Zusammenhalt zu stärken, braucht es eine Politik, die die Menschen befähigt, mit den Umbrüchen der Zeit umzugehen. Eine Politik, die dem Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft neue Kraft verleiht, für gelingende Integration sorgt, den Weg in die digitale Welt weist, die innere Sicherheit stärkt und eine neue europäische Dynamik in Gang setzt.
Konkrete politische Maßnahmen alleine reichen aber nicht aus, um das Vertrauen in unsere Demokratie zurückzugewinnen. Neben dem „Was“ der Politik ist auch das „Wie“ entscheidend: Der Politikstil, den wir pflegen. Die Haltung, mit der wir an Probleme herangehen. Und die Art, wie wir gesellschaftliche Konflikte austragen.
Zivilisierter Streit hält die Gesellschaft zusammen
Das verlangt von uns allen, immer wieder der Frage nachzugehen: Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Denn der Zusammenhalt ist eben kein Selbstläufer, sondern er bedarf ständiger Anstrengung. Das war schon immer so. Aber moderne Gesellschaften differenzieren sich unter Bedingungen der Globalisierung noch schneller und stärker aus. In dem Maß, wie sie immer freier wurden, individualisieren sie sich auch immer mehr – in den persönlichen Lebensstilen wie in ihren Weltanschauungen.
Zunächst einmal müssen wir entschlossen für diese Vielfalt einstehen. Denn die Pluralität des Menschen ist – wie Hannah Arendt sagt – die Grundlage der Politik. Keine Partei kann für sich beanspruchen, den einen wahren Volkswillen zu vertreten. Den gibt es nicht. Er ist nur eine Anmaßung der Rechtspopulisten. Und selbst in der direkten Demokratie entscheidet nur der mehrheitliche Volkswille.
Weil die Verschiedenheit der Menschen eine existenzielle Tatsache ist, sind Auseinandersetzungen in einer Demokratie nicht nur unvermeidlich, sondern auch gut. Meine These ist: Zivilisierter Streit hält die Gesellschaft zusammen. Unzivilisierter Streit treibt sie auseinander. Zivilisiert ist politischer Streit, wenn er unsere demokratische Verfassungsordnung beachtet und mit Anstand und Respekt geführt wird. Außerdem braucht es Klarheit und Offenheit. Wie reden wir miteinander? In dem wir die richtige Mitte suchen zwischen Verrohung und Verbalradikalismus einerseits und einer überspannten politischen Korrektheit andererseits.
Klare und respektvolle Sprache
Zudem müssen jene, die Politik als Beruf gewählt haben, so sprechen, dass jeder sie versteht, also gerade auch die Menschen, die sich neben ihrem anstrengenden Alltag nur nebenbei mit Politik beschäftigen. Denn im Nicht-Verstehen entsteht schon die erste Entfremdung zwischen „die da oben – wir da unten“.
Vorurteile haben wir alle. Menschen mit Vorurteilen auszugrenzen, dazu haben wir kein Recht. Aber aus Vor-Urteilen können nur Urteile werden, wenn wir die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Darauf müssen sich in einer Demokratie alle einlassen. Es gibt ein Recht auf eigene Meinung, nicht aber auf eigene Fakten. Das Verdrehen von Tatsachen ist das Feld der Demagogen. Ihnen gegenüber ist die Demokratie verletzlich. Nur indem wir selbst redlich argumentieren und glaubwürdig handeln, können wir dagegen Dämme errichten. Dazu gehört der Kompromiss und seine Wertschätzung gegenüber dem Fanatismus des Schwarz-Weiß-Malens.
Brücken bauen
Wir müssen Brücken zu denen bauen, die sich von der Gesellschaft abwenden oder ganz anders ticken als wir selbst. Wir müssen ihnen zuhören und versuchen, ihre Perspektiven zu verstehen. Und wir müssen ihre Sorgen und Ängste ernst nehmen, gerade dann, wenn wir sie nicht teilen. Das heißt keineswegs, dass wir den Ängsten nachgeben – nein, unsere Haltung muss klar sein. Es bedeutet aber, dass wir uns mit ihnen auseinandersetzen, aufklären und Lösungen erarbeiten.
Zuversicht im Wandel
Entscheidend ist aber, dass wir die Umbrüche der Zeit nicht zuerst als Bedrohung betrachten, der wir schutzlos ausgeliefert sind, sondern als Herausforderung, die wir mitgestalten können. Es braucht eine mutige Grundhaltung, die Zuversicht im Wandel vermittelt. Wenn es uns gelingt, der Angst Hoffnung, der Verunsicherung Zuversicht und der Verzagtheit Tatkraft entgegenzustellen, kann die liberale Demokratie gestärkt aus ihrer aktuellen Krise hervorgehen.
Quelle:
Namensbeitrag von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der Beitrag ist am 14. Oktober 2017 in leicht gekürzter Form in der NZZ erschienen.