In einem Namensbeitrag fordert Ministerpräsident Winfried Kretschmann einen neuen sachlichen Geist in der Integrations- und Migrationsdebatte. Ein Einwanderungsgesetz müsse den Anforderungen von Gesellschaft und Wirtschaft gerecht werden. Dabei sollte es eine klare Trennung zwischen Asyl- und Arbeitsmigration ermöglichen. Statt der geplanten Beschäftigungsduldung brauche es eine Stichtagsregelung für gut integrierte Menschen.
„Ich teile die Einschätzung vieler Unternehmer, dass Baden-Württemberg sowohl die Zuwanderung von Hochqualifizierten, von Fachkräften als auch von Geringqualifizierten dringend benötigt. Bei den Hochqualifizierten befinden wir uns in einem globalen Wettstreit um die besten Köpfe. Hochqualifizierten müssen wir vor allem gute Bedingungen und wenig Bürokratie bieten. In vielen Branchen herrscht schon heute ein eklatanter Mangel an Fachkräften, aber auch an gering Qualifizierten. In manchen Branchen stellt der Fachkräftemangel längst eine Wachstumsbremse dar.
Und: Ich verstehe die vielen Unternehmer vor dem Hintergrund des Mangels an Arbeitskräften gut, die nicht möchten, dass bei Ihnen beschäftige Flüchtlinge abgeschoben werden. Sie haben in der Flüchtlingskrise gesellschaftliche Verantwortung übernommen – so wie wir uns das immer von Unternehmern wünschen. Ihre Firma hat Zeit und Geld in die Flüchtlinge gesteckt. Da ist es doch absolut nachvollziehbar, dass die Firmenchefs diese Mitarbeiter nicht verlieren wollen. Immer wieder bekomme ich die Fragen gestellt: „Warum werden die Falschen abgeschoben – die gut Integrierten, die arbeiten und Geld verdienen?“
Es geht zu oft um Symbole und zu wenig um wirksame Lösungen
Es ist ein Problem, dass bei uns Debatten über Zuwanderung und Integration viel zu oft vor allem emotional geführt werden. Es geht viel zu oft um Symbole und viel zu selten um wirksame Lösungen – das zeigen die aktuellen Diskussionen. Eine sachliche, faktenorientierte und pragmatische Debatte scheint kaum mehr möglich. Was wir brauchen ist ein neuer gestaltender, nach vorne gerichteter Geist, der sachorientiert und differenziert ist, der ideologische Scheuklappen bei Seite legt, der Humanität und Ordnung zusammenbringt. Und der unsere wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen verbindet. Damit wir zu einer Migrationspolitik kommen, die die Zuwanderung aktiv gestaltet und steuert – und dabei immer die Gesellschaft und das große Ganze fest im Blick hat. Dafür ist jetzt der Zeitpunkt gekommen.
Damit wir Sachlichkeit und Ordnung in die Debatte bekommen, müssen wir klar trennen zwischen Flucht und Asyl auf der einen und Arbeitsmigration auf der anderen Seite. Sonst besteht die Gefahr, dass das Asylrecht auf Dauer erdrückt wird. Und wenn man möchte, dass diese Trennung zwischen Asyl und Arbeitsmigration funktioniert und wenn Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, nicht den Weg übers Asylrecht gehen sollen, dann müssen wir legale Möglichkeiten und Wege der Arbeitsmigration anbieten. Dadurch bekommen wir endlich auch Ordnung in unser System, sprich Menschen, die nicht politisch verfolgt oder keinem Bürgerkrieg entflohen sind, müssen in Ihre Heimat zurückkehren.
Das heißt, wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das alle Formen der Arbeitsmigration ermöglicht und regelt – auch die von Geringqualifizierten. Denn auf der einen Seite benötigen unsere Unternehmen auch Menschen ohne Ausbildung. Auf der anderen Seite vermeiden wir so, das gering qualifizierte Arbeitsmigranten mangels Alternative weiterhin den Weg über das Asylrecht wählen.
Sinnvolle Regeln auch für eine Arbeitsmigration von Geringqualifizierten
Deshalb sollten wir im Einwanderungsgesetz sinnvolle Regeln für eine Arbeitsmigration auch von Geringqualifizierten verankern. Das fehlt im Gesetzentwurf bisher:
- Man sollte verankern, dass Geringqualifizierte, die vorab einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben, zeitlich befristet bei uns arbeiten dürfen. Dafür gibt es einen Bedarf in der Wirtschaft.
- Niemand müsste Angst haben, dass zu viele Menschen ohne Berufsausbildung zu uns kommen, da wir dafür klare Kontingente festlegen könnten.
- Gerade mit dem Arbeitskräftekorridor der Westbalkanregelung aus dem Jahr 2015 haben wir – auch im Bereich der Geringqualifizierten – gute Erfahrungen gemacht. Diese hat zum erheblichen positiven Zuwachs der erwerbsbezogenen Zuwanderung gerade auch in Tätigkeiten, die keine abgeschlossene Berufsausbildung erfordern, beigetragen. Allein in 2017 konnten über 70.000 Zustimmungen der Bundesagentur für Arbeit zur Ausübung einer Beschäftigung in Deutschland erteilt werden, davon fast 18.000 für Baden-Württemberg. Gleichzeitig kamen immer weniger Menschen vom Westbalkan als Asylbewerber zu uns.
Diese in Paragraf 26, Absatz 2 Beschäftigungsverordnung (BeschV) festgehaltene Regelung wird Ende 2020 auslaufen. Regelungen zur Entfristung oder zumindest zur Verlängerung sind im Entwurf des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes leider nicht vorgesehen. Gerade die Westbalkanregelung könnte prototypisch auch für Einwanderungsregelungen mit anderen Ländern sein.
Kritik an der geplanten Beschäftigungsduldung
Ich plädiere schon lange für eine pragmatische Rückführungspolitik – im Sinne unserer Unternehmen, unserer Gesellschaft und der betroffenen Menschen. Es macht ja – schon aus wohlverstandenem deutschem Eigeninteresse – keinen Sinn, Menschen abzuschieben, die schon seit Jahren hier leben, eine Arbeit haben und Steuern zahlen, die Deutsch sprechen und deren Kinder hier in die Schule gehen, die in Vereinen aktiv sind und hier Freunde gefunden haben. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung dieses Problem nun endlich angeht. Allerdings halte ich den vorgeschlagenen Weg aus zwei Gründen für nicht sehr gelungen. Deshalb sollten wir da nochmal nacharbeiten.
Zum einen sind die Hürden für die geplante Beschäftigungsduldung zu hoch: Der Antragsteller muss unter anderem seit mindestens 18 Monaten eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von mindestens 35 Stunden ausüben. Die Antragstellerin oder der Antragsteller und der Ehepartner müssen über Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 verfügen. Scheitert auch nur einer der beiden am Sprachniveau, erhält keiner eine Beschäftigungsduldung. Vor dem Hintergrund, dass an die Arbeit selbst keinerlei Anforderungen in Bezug auf die Qualifikation gestellt werden und ausreichen kann, erscheint sowohl die geforderte wöchentliche Arbeitszeit als auch das geforderte Sprachniveau als zu hoch. Natürlich muss sich etwa eine Küchenhilfe mit den Kollegen gut auf Deutsch verständigen können, aber sie muss keine fehlerfreie Briefkorrespondenz führen können. So verlangt der Paragraf 25b des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis wegen nachhaltiger Integration nur Sprachkenntnisse auf dem Niveau A2, weshalb das Sprachniveau auf hinreichende mündliche Deutschkenntnisse (A2) abgesenkt werden sollte
Darüber hinaus sollte bei gut integrierten Alt- und Härtefällen, die sich bereits seit Jahren im Status der Duldung befinden, über eine sofortige Aufenthaltserlaubnis nachgedacht werden, damit nicht erneut die Duldungsschleife gedreht werden muss.
Stichtagsregelung ist die bessere Alternative
Mit dem Vorschlag aus Berlin soll nicht nur den zu einem bestimmten Stichtag hier lebenden Geduldeten, sondern auch künftigen Geduldeten die Möglichkeit einer Beschäftigungsduldung eröffnet werden – quasi ein Spurwechsel. Mit Blick auf eine klare Trennung zwischen Asyl- und Arbeitsmigration erscheint mir das nicht konsequent.
Ich halte eine Stichtagsregelung – gemeinsam mit der oben dargelegten Möglichkeit der legalen Arbeitsmigration auch von Geringqualifizierten im Rahmen des Einwanderungsgesetzes – für besser: Diese sollte Migranten, die bereits seit mehreren Jahren in Deutschland leben, unbefristet hier arbeiten und sich gut integriert haben, ein Aufenthaltsrecht ermöglichen.
Insbesondere für die Menschen, für die die Unternehmer in den Jahren der Flüchtlingskrise Verantwortung übernommen haben, sollten wir eine einfache Stichtagsregelung ohne zu hohe gesetzliche Anforderungen finden. Da eine solche Stichtagsregelung nur rückwirkend greift, löst sie auch keinen sogenannten Pull-Effekt aus – schafft also im Gegensatz zu der vom Bund geplanten Regelung keine Anreize für weitere Migration über das Asylrecht. Wir brauchen für die Zukunft eine klare Trennung zwischen humanitärer und wirtschaftlicher Zuwanderung.”
Winfried Kretschmann