Die Ansprache von Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Jahreswechsel 2025/2026 im Wortlaut:
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
'Ich will Ihnen heute nicht eine der üblichen Festreden halten, dafür sind die Zeiten doch zu ernst und zu schwer.'
Dieser Satz stammt nicht von mir – unser ehemaliger Bundeskanzler Konrad Adenauer hat ihn in seiner Weihnachtsansprache nach der Kuba-Krise gesagt. Das ist über 60 Jahre her, und doch wirkt er aktuell.
Das zu Ende gehende Jahr hat uns allen viel abverlangt. Die Krisen und Umbrüche in der Welt und bei uns im Land sind wirklich groß. Und natürlich auch die Sorgen.
Auch für mich persönlich gab es in meinem letzten Amtsjahr so manche Nachricht, die viel Kraft kostete, so manchen Tag, der an mir zehrte.
So ging es sicherlich vielen von Ihnen.
In solchen Zeiten sprechen wir uns gern gegenseitig Mut zu. Auch mir tut das gut.
Aber: Worauf gründet sich diese Zuversicht?
Für mich persönlich lautet die Antwort: Auf den Menschen. Auf jedem Einzelnen. In seiner Einzigartigkeit. Denn jeder Mensch ist, wenn er das Licht der Welt erblickt, für sich genommen ein Neubeginn. Jeder von uns kann denken, was noch keiner vor ihm gedacht hat. Sagen, was noch nie zuvor jemand gesagt hat. Und handeln, wie noch keiner vorher gehandelt hat. Jede und jeder von uns ist eine Persönlichkeit, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat.
Diese Einzigartigkeit bringt eine ganz besondere Kraft mit sich: Wir können Neues wagen und ganz neue Wege gehen. In der Wissenschaft, in der Technik, im Miteinander. Und ja, auch in der Politik.
Es ist diese Fähigkeit zum Neuanfang, die uns über alle Verschiedenheit hinweg verbindet. Diese einzigartige Kraft entfaltet sich besonders dann, wenn wir unsere unterschiedlichen Sichtweisen, Erfahrungen und Ideen zusammenbringen und gemeinsam etwas gestalten.
Genau das passiert im Kompromiss. Der wird heute ja oft als Übel abgetan, als mangelnde Standhaftigkeit. Und es stimmt ja auch: So ein Kompromiss ist mühsam, er kostet Zeit und manchmal auch Nerven.
Aber wie wollen wir anders gute und tragfähige Lösungen finden?
Der Kompromiss ist der einzige Weg, wie wir zu einer Übereinkunft kommen. Wie eine Gesellschaft der Verschiedenen überhaupt funktionieren kann. Anders können wir als freie Menschen gar nicht zusammenleben. Die Alternative wäre das Recht des Stärkeren.
Der Kompromiss ist für mich deshalb eine der tragenden Säulen unserer Demokratie. Weil er uns mit all unseren unterschiedlichen Überzeugungen, Interessen und Bedürfnissen am Ende doch zusammenbringt. Er baut Brücken, keine Gräben. Das macht ihn so wertvoll.
Nur wenn wir es schaffen, uns in unserer Verschiedenheit auszuhalten, uns zuzuhören und zivilisiert zu streiten, können wir unser Zusammenleben gut gestalten. Das gilt in der Politik, aber auch am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie.
Genau daraus schöpfe ich meine Zuversicht: Aus dem Wissen, dass jeder Mensch einzigartig ist. Und aus der Erfahrung, dass sogar in schweren Zeiten Neues wachsen kann, wenn wir aufeinander zugehen und zusammen anpacken.
Das zeigt mir: wir können Dinge schaffen, die wir heute kaum für möglich halten. Mein Wunsch für Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger ist, dass wir diese Zuversicht gemeinsam erfahren. Und wir so für die Herausforderungen unserer Zeit zu neuen Ideen und guten Lösungen finden.
Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Freunden ein gutes und glückliches Jahr 2026!“
