Interview

„Wir können jetzt nicht alle Läden öffnen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann während eines Telefoninterviews.

Die Corona-Krise kommt Baden-Württemberg teuer zu stehen, nicht immer kann es dabei gerecht zugehen. Das sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Telefoninterview mit der Badischen Zeitung.

Badische Zeitung: Die Ministerpräsidenten haben einen schrittweisen Öffnungsprozess begonnen; die Krankenhäuser waren bislang nicht überlastet. Spüren Sie erste Erleichterung?

Winfried Kretschmann: Ich bin unendlich froh und dankbar, dass wir bisher eine Überlastung unserer Krankenhäuser verhindern konnten. Die Öffnung, auf die wir uns nun geeinigt haben, ist ein sehr mutiger Schritt, auch wenn das viele Betroffene natürlich anders sehen. Geschäfte bis 800 Quadratmeter zu öffnen, das sind schon sehr, sehr viel. Da kommt in eine Stadt plötzlich ein erheblicher Schwung rein, wenn die Leute da einkaufen gehen. Das war für mich das Äußerste, was ich mitgehen konnte.

„Das ist alles nicht widerspruchsfrei und auch nicht immer logisch“

Sie haben diese Woche gesagt, das Virus sei nicht gerecht. Wie meinen Sie das?

Kretschmann: Nehmen wir ein Beispiel: Wir hatten ja bisher die Baumärkte geöffnet. Die verkaufen aber auch Blumen. Also sagen die Blumenläden, was ist denn das? Die dürfen Blumen verkaufen und wir nicht? Das ist natürlich nicht gerecht. Wenn Sie schrittweise öffnen, also nicht nach allgemeingültigen Kriterien, dann erzeugen Sie Ungerechtigkeiten. Aber wir können jetzt nicht alle Läden öffnen, die die Abstands- und Hygienestandards einhalten können, das würde ein zu großes Gesundheitsrisiko bedeuten. Das ist alles nicht widerspruchsfrei und auch nicht immer logisch.

Aber das liegt ja in der Natur der Sache, denn wir müssen ja sehr, sehr schnell und entschlossen handeln. Eine alleinerziehende Mutter, die jetzt ihre Kinder erstmal nicht in den Kindergarten schicken kann, ist viel schlimmer dran als ein Ehepaar, von denen einer zuhause bleiben kann. Es gibt einige ungerechte Entscheidungen, die so ein fieses Virus produziert. Man kann hier versuchen, abzumildern. So machen wir es ja mit dem Schutzschirm und der Notfallbetreuung.

Ist es eine Illusion zu hoffen, dass die meisten ihren Lebensstandard halten können und nach der Krise alles wie vorher wird?

Kretschmann: Das ist leider illusionär. Die Krise wird teuer und wird uns hinterher schwer zu schaffen machen. Wir nehmen jetzt ja riesige Schulden auf, die zurückgezahlt werden müssen. Die Krise wird viele ärmer machen. Aber wenn alles nicht so schlimm läuft und wir dann einen Impfstoff bekommen, dann kann es auch gut sein, dass wir uns schnell erholen und nach einer angemessenen Zeit wieder gut dastehen.

Die Grünen haben sich immer als Bürgerrechtspartei verstanden. Wie schwer fällt es Ihnen, gravierende Eingriffe in die persönliche Freiheit zu verantworten?

Kretschmann: Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit steht in Artikel 2, also gleich am Anfang unserer Grundrechte. Und dieses Grundrecht tritt in einer solchen Krise in den Vordergrund. Sterbe ich in dieser Krise, bin ich aller anderen Freiheiten ledig. Das darf man schlichtweg nicht vergessen. In Artikel 11 der Verfassung steht, dass wir bei solchen Epidemien auch Grundrechte wie die Freizügigkeit einschränken dürfen. Aber, dass wir das machen müssen, tut natürlich jedem freiheitsliebenden Menschen weh.

„Die Einschränkungen dürfen die Krise nicht überleben“

Worauf kommt es aus Ihrer Sicht an?

Kretschmann: Klar ist, dass diese Einschränkung die Krise nicht überleben darf. Die Nagelprobe für die Demokratie ist nicht der jetzige Zustand, sondern dass wir, wenn die Epidemie vorbei ist, unsere Grundrechte genauso radikal wieder in Funktion setzen. Darauf wird es ankommen und darauf werden wir sehr genau achten.

Sehen Sie da Gefahren?

Kretschmann: Die Gefahr ist immer da. Denken Sie an die App, die wir planen. Auch wenn sie freiwillig ist, ist es doch ein sehr starker Eingriff in die Bürgerrechte. So etwas dürfen wir nur in Krisen machen. Auch der Eingriff in die Religionsfreiheit, die ja einen besonderen Schutz der Verfassung genießt, ist außerordentlich prekär. Das sind sehr gravierende Dinge, die wirklich schmerzen Ich habe auch nie damit gerechnet, dass ich jemals so etwas veranlassen muss. Da bricht einem fast wirklich der Bleistift ab, wenn man so etwas in die Verordnung schreibt.

Im Bund gab es 2007 eine Katastrophenschutz-Übung, die eine Pandemie durchspielte. 2013 hat das Robert-Koch-Institut ein Szenario mit einem fiktiven Erreger vorgelegt. Beide Male wurde danach vor Engpässen im Gesundheitssystem gewarnt. Sie regieren seit 2011. Was antworten Sie auf den Vorwurf, solche Warnungen ignoriert zu haben?

Kretschmann: 2007 wurde eine Influenza-Pandemie zugrunde gelegt. Die Erkenntnisse sind in die Planungen eingeflossen. Aber man kann nicht alles eins zu eins übertragen. Damals gingen die Übenden davon aus, dass es einen Impfstoff gibt. Den haben wir jetzt nicht. Und die Bevorratung von Schutzkleidung und Medikamenten ist eine Aufgabe der Krankenhäuser. Ich habe kürzlich mit dem Klinikum Stuttgart gesprochen: Die hatten Vorräte für mindestens ein Jahr. Nur war der Verbrauch jetzt halt schlagartig um ein Vielfaches höher. Wenn Sie solch eine Pandemie eines unbekannten Virus haben, dann wirft das alle Planungen über den Haufen. Natürlich werden wir im Nachhinein prüfen, ob wir alle Warnungen ernst genug genommen haben, um zu wissen, was wir in Zukunft anders machen müssen. Zum Beispiel müssen wir diese große Abhängigkeit vom Ausland bei wichtigen Arzneimitteln, Geräten oder Materialien ändern.

Eine Gruppe, die fürchtet, weiterhin stark eingeschränkt zu bleiben, sind Menschen mit erhöhtem Risiko für schwere Covid19-Verläufe. Aufgrund Ihres Lebensalters gehören Sie selbst dazu. Werden Sie Ihre Enkel erst nach der Freigabe eines Impfstoffs wieder persönlich treffen können?

Kretschmann: Das ist für mich persönlich eine der schlimmsten Folgen der Krise, dass ich jetzt meine geliebten Enkel schon so lang nicht gesehen habe. Gott sei Dank kann man heute skypen. Wie stark die Kontaktverbote sind, hängt ja von vielen Randbedingungen ab. Wenn wir mit FFP-Masken zu Besuch kämen, wäre das wahrscheinlich gar kein Problem. Aber natürlich gehe ich jetzt nicht mit Schutzmasken zu meinen Enkeln. Erstens würde ich da gegen mein eigenes Verbot verstoßen. Zweitens dürfen wir solche Masken nicht aus dem professionellen Bereich abziehen, die sind ja Mangelware. Die Frage der Öffnung hängt von vielen Faktoren ab zum Beispiel wie entwickelt sich die epidemiologische Lage, hat man Schutzmasken, wie sind die Testkapazitäten? Und da sind wir jede Woche schlauer.

„Es können nicht alle gerecht finden, was wir da beschließen“

Die Bürger müssen gerade viel Ungewissheit ertragen. Die Aussicht auf sinkende Lebensstandards haben Sie bereits angesprochen, bald muss eisern gespart werden. Machen Sie sich Sorgen um die Demokratie, um eine Stärkung der Ränder?

Nein. Die Menschen sehen jetzt, dass die Rechtspopulisten überhaupt nichts zur Problemlösung beitragen. Man muss nur dahin schauen, wo sie an der Macht sind: der Schlingerkurs von Trump in der Pandemie zum Beispiel. Oder Bolsonaro in Brasilien. Diese Leute haben nicht wirklich etwas zu bieten, wenn es um die Lösung großer Probleme geht. Ich bin sehr froh und auch sehr dankbar, dass unsere Bevölkerung den Maßnahmen, die wir als Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin treffen, vertraut und sie befolgt. Es können nicht alle gerecht finden, was wir da beschließen, aber wir bekommen ein sehr hohes Vertrauen von der Bevölkerung, und das ist ein hohes Gut in einer Krise. Ich bin eigentlich überzeugt, dass die Demokratie eher gestärkt daraus hervorgehen wird, weil man merkt, wie wichtig der Zusammenhalt ist und was man aneinander hat.

Wenn Sie vergangenes Jahr gewusst hätten, dass die nächste Legislaturperiode von einer angeschlagenen Wirtschaft, starken Steuerausfällen und 500 Millionen Euro Rückzahlungen pro Jahr geprägt sein wird hätte das Ihre Lust auf eine erneute Kandidatur gedämpft?

Kretschmann: Vielleicht schon (lacht). Gott sei Dank weiß man so etwas nicht. Wenn man Krisen vorhersehen könnte, wären es ja keine. Allerdings sollte man eine solche Entscheidung nicht nach dem Lustprinzip fällen, und das habe ich auch nicht getan. Da geht es um die Verantwortung für unser Land. Das Paradoxe ist: Man muss auch solche Krisen annehmen und nicht denken, ach, was habe ich jetzt da an der Backe, hätte ich das gewusst! Wenn man hadert, blockiert das. Gerade in einer Krise muss man bedachtsam, aber auch mutig und kreativ sein.

Die Fragen stellte Jens Schmitz

Quelle:

Das Interview erschien am 18. April in der Badischen Zeitung.
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