Im Interview mit dem Badischen Tagblatt spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über den Vormarsch der Populisten in Europa. Er warnt davor, dass Demokratie und Freiheit in Europa nicht selbstverständlich seien. „Man muss sie sich in Krisenphasen immer wieder aufs Neue erringen. Das bedeutet auch, auf berechtigte Kritik einzugehen und in diesem Prozess immer wieder zu fragen: Hast du eine bessere Idee?”
Badisches Tagblatt: Herr Ministerpräsident, der Kampf gegen rechts ist Ihnen persönlich ein großes Anliegen – Sie haben sogar Ihren Geburtstag sozusagen nach Österreich verlegt, um gegen den rechtspopulistischen Kandidaten Front zu machen. Aber gibt es wirklich ein Rezept gegen die Rechtspopulisten, die überall in Europa erstarken?
Winfried Kretschmann: Ein einzelnes Rezept gibt es nicht, man braucht viele. Es handelt sich ja nicht um eine einheitliche Bewegung, sie umfasst ein Sammelsurium aus hartleibigen Fremdenfeinden und Rechtsradikalen bis hin zu enttäuschten Protestwählern, die bisher die etablierten Parteien gewählt haben. Wir müssen unsere Argumente an den Teil der Wähler richten, der überhaupt für Argumente zugänglich ist – und das dürfte ein erheblicher Teil sein. Ich will's mal so sagen: Man muss eben in der Politik wie im Leben immer mal wieder von vorne anfangen.
Was meinen Sie damit?
Kretschmann: Viele in Europa denken, Freiheit und Demokratie seien selbstverständlich. Das ist aber nicht so. Man muss sie sich in Krisenphasen immer wieder aufs Neue erringen. Das bedeutet auch, auf berechtigte Kritik einzugehen und in diesem Prozess immer wieder zu fragen: Hast du eine bessere Idee? Wir müssen auf Aufklärung und Sachargumente setzen. Wirkliche Konzepte haben die Rechten ja nicht.
Was braucht es für einen Politikertyp in diesem Kampf?
Kretschmann: Kompetente und sachkundige Politiker, die deutlich machen, dass sie eine Vorstellung davon haben, wie die Gesellschaft der Zukunft aussieht, und die ihre Argumente verständlich rüberbringen. Das ist immer ein Spagat: Politik funktioniert nicht ohne Emotionen, aber letztlich können wir uns nur auf Vernunftgründe einigen. Es ist also Aufgabe von Politik, die Emotion immer in eine vernünftige Bahn zu lenken. Aber Politik muss zugleich Ziele und Visionen formulieren, damit die Menschen auch begeistert werden.
Das verlangt nach erstens Langmut und zweitens nach dem Gefühl für den richtigen Moment, in dem man den Schalter umlegt.
Kretschmann: Wir wissen von Max Weber: Dicke Bretter hartnäckig bohren, mit Leidenschaft zur Sache und Augenmaß. Niemand würde bestreiten, dass das die Tugenden eines guten Politikers sind. Aber wer vereint schon alle diese wunderbaren Eigenschaften in sich? Wir Politiker sind halt alle auch nur Menschen.
Wie aber nur mit Vernunft auch die potenziellen Wähler wieder einfangen?
Kretschmann: Nehmen wir mal Großbritannien: Viele junge Leute nehmen beispielsweise wie selbstverständlich am Erasmus-Programm oder vergleichbaren Austauschprogrammen teil, die die EU initiiert hat. Auf der anderen Seite gehen ausgerechnet diese jungen Leute nicht wählen, um damit kundzutun, dass sie das gut finden und das so bleiben soll. Nach dem Brexit-Desaster wachen sie auf. Und das ist der Knackpunkt: Wir müssen es schaffen, das Engagement rechtzeitig zu wecken, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist – in erster Linie gegen die Demagogen der Rechtsnationalen. Und wir müssen wieder lernen, klar zu machen, worum es geht – die großen Linien aufzeigen und uns in öffentlichen Reden nicht immer im Kleinklein der Sachzwänge verlieren.
Ein Problem ist auch, wie sehr die Glaubwürdigkeit von Politikern gelitten hat.
Kretschmann: Sicher muss man glaubwürdig sein. Beim Brexit war es ja so, dass die, die letztendlich für den Verbleib in der EU gekämpft haben, viele Jahre nur negativ über die EU geredet hatten. Denen glaubt doch niemand, wenn sie dann auf einmal umschwenken. Es ist wichtig, als Politiker einen Kompass zu haben. Nur wer selber orientiert ist, kann auch Orientierung geben.
Was allein, ganz offensichtlich, junge Leute aber nicht bewegt, wählen zu gehen.
Kretschmann: Darüber müssen wir nachdenken, vor allem nach dem Brexit. Es ist doch fatal, wenn in einer Gesellschaft die Alten den Jungen die Wege verbauen.
Es ist kein Geheimnis, dass Sie gern mit der SPD weiterregiert hätten. Ist es aber nach allem, was Sie jetzt gesagt haben, vielleicht sogar erfolgversprechender, mit der CDU zusammenzuarbeiten, weil die beiden Blöcke zusammengegangen sind, die sich eigentlich gegenüberstehen?
Kretschmann: Das ist die Chance der Demokratie. Als Politiker bestimmt man nicht, was geschehen soll, sondern das Volk. Es ist unser Auftrag, aus dem Wahlergebnis etwas zu machen. Jetzt haben wir die Chance, dass zwei Parteien, die aus ganz anderen Richtungen kommen, etwas Produktives für dieses Land hinbekommen. In dieser neuen Gemengelage mit den Rechtspopulisten können wir für Stabilisierung sorgen und die zivilisierte, vernunftgeleitete politische Auseinandersetzung befördern. Ich glaube, zivilisierter Streit ist etwas, was die Welt zusammenhält.
Was genau verstehen Sie unter zivilisiertem Streit?
Kretschmann: Ein Streit diesseits von Fanatismus, ein Streit in der Sache, der nicht persönlich verletzt. Ein Streit auch um Grundsätze, der sich aber durch Tatsachen belehren lässt, sonst ist er ideologisch verbohrt.
Auch in Oppositionszeiten haben Sie für sich in Anspruch genommen, die CDU zu verstehen. Was ist anders, jetzt, wo Sie quasi der Chef sind?
Kretschmann: Man muss es nicht nur verstehen, man muss es auch akzeptieren. Als Regierungschef ist es mein Ziel, aus den antithetischen Sprechweisen der beiden Parteien eine Synthese zu machen. Das ist nicht einfach, aber eine schöne Herausforderung, die etwas Heiteres hat. Denn wenn man von den Sprachunterschieden wegkommt, sind die Differenzen in der Sache oft viel geringer, als man annehmen sollte.
Soll das jetzt heißen, dass die Unterschiede zwischen Grünen und CDU eigentlich gar nicht so groß sind?
Kretschmann: Die CDU hat sich durch elf Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel erheblich verändert. So wie wir uns auch verändert haben, wir sind ja auch nicht so wie vor elf Jahren. Wir haben uns angenähert. Das ist für viele wiederum ein Problem, die Differenzen sind nicht klar genug erkennbar, was dazu führt, dass viele den Populisten hinterherrennen. Durch den internationalen Terrorismus entwickeln viele Menschen den Wunsch nach Sicherheit, dazu kommen soziale Verwerfungen. Alles in Allem sind das Umbruchphasen, die uns neu herausfordern. Wir müssen Antworten finden. Wenn diese Koalition es schafft, dass wir in dieser Phase gesellschaftlich nicht auseinanderdriften, dann haben wir schon viel erreicht.
Einigen in Ihrer Partei ist der grüne Ministerpräsident in vielen Positionen auch im Bund viel zu nah an der CDU. Provozierend gefragt: Wie viel Grün steckt in Winfried Kretschmann?
Kretschmann: Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass wir zu nah an der CDU sind. Wir koalieren mit ihr. Man muss in diesen Zeiten flexibel sein, zu pragmatischen Lösungen kommen und kann nicht mehr nur mit Lieblingspartnern zusammenarbeiten. Wenn wir alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterdeklinieren, bringen wir erstens das Land nicht voran, und zweitens sind die Menschen unzufrieden wegen der angeblichen Ununterscheidbarkeit und geben den Populisten ihre Stimme. Wir müssen jeweils den Markenkern identifizieren und dann dort größtmögliche Flexibilität ermöglichen. Und bei anderen Themen, die einem nicht passen, muss man eben immer ein bisschen in den Tisch beißen.
Wie fühlt es sich an, ein Solitär zu sein?
Kretschmann: Es gibt mir viel Freiheit. Aber manchmal wünschte ich mir, ich könnte auch mit zwei oder drei anderen grünen Ministerpräsidenten eine Gruppe bilden oder mich abstimmen. Manchmal hockt man zwischen den Stühlen. Aber ich hadere nicht damit. Denn die Ministerpräsidentenkonferenz ist aufgrund der Vielfalt der Koalitionen mittlerweile gemeinsam mit der Bundeskanzlerin so etwas wie eine Clearingstelle, die Lösungen hinbringt. Ich bin als Ministerpräsident dabei – auch für die Grünen, und darüber sind auch die anderen Grünen froh. Auf meine Beliebtheit bilde ich mir nichts ein, aber ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass durch mein zweites Wahlergebnis natürlich mein politisches Gewicht gewachsen ist. Ich werde jetzt noch einmal anders wahrgenommen, als wenn jeder denken würde: Na ja, der ist durch einen Unfall der Geschichte Ministerpräsident geworden.
Wie sehen Sie dann Ihre Zukunft über 2021 hinaus?
Kretschmann: Ich werde dann mit der Politik aufhören, ziemlich sicher. Dass ich noch ein drittes Mal antrete, halte ich für unwahrscheinlich. Andererseits, wenn ich mir jetzt den Papst angucke, der noch mit knapp 80 eine Milliarde Katholiken zusammenhält - wer weiß? Aber das gehört nicht zu meiner Lebensplanung.
Ist ein neuer Stil an den Grünen die Auswechslung von Regierungspräsidenten – oder war es ein Fehler, das vor fünf Jahren nicht zu machen?
Kretschmann: Es ist richtig, sie am Anfang der Legislaturperiode auszutauschen. Die Erfahrung habe ich letztes Mal gemacht. Wenn man das mittendrin macht, versteht das niemand. Dieser Schritt folgt dem Demokratieprinzip, die hohen politischen Beamten müssen nicht nur die Loyalität eines normalen Beamten mitbringen, sondern auch aktiv die Regierungspolitik vertreten. Sie müssen sozusagen überloyal sein, also auf der politischen Linie liegen. Deshalb können politische Beamte jederzeit ohne Angabe von Gründen entlassen werden. Es gibt gar keinen Grund, sich darüber aufzuregen. Denn es schützt auch diejenigen, die entlassen werden, da es weder etwas über ihre Leistung noch über ihren Fleiß aussagt. Es sind politische Entlassungen.
Das heißt im Umkehrschluss, diese Loyalität trauen Sie Nicolette Kressl in Karlsruhe zu, aber ihren Kollegen in Tübingen und Stuttgart nicht?
Kretschmann: Das qualifiziert und diskutiert man nicht öffentlich.
Mit der Würde wächst die Bürde, sagt man. Wie erhalten Sie sich im nicht einfacher werdenden politischen Tagesgeschäft die Heiterkeit?
Kretschmann: Mein Alter hilft mir dabei. Ich habe so viel politische Lebenserfahrung, dass ich nur zu gut unterscheiden kann zwischen steriler Aufgeregtheit und echten Problemen. Das Amt ist aber auch eine Bürde, denn wenn man Fehler macht, müssen das die Bürgerinnen und Bürger ausbaden.
Quelle:
Das Interview ist am 6. Juli 2016 im Badischen Tagblatt erschienen und wird hier in leicht gekürzter Fassung wiedergegeben.