Interview

Panische Gefühle angesichts des Klimawandels

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) steht bei einer Waldbegehung unter Bäumen. (Bild: © picture alliance/Patrick Seeger/dpa)

Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung beschreibt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, wie die Veränderungen von Klima und Natur ihn verstören – und gleichzeitig in seinen Forderungen nach Maßnahmen bestärken.

Herr Ministerpräsident, der Klimawandel wird für die Menschen auch im Alltag spürbar: Dürresommer, niedrige Pegelstände, Schäden in unseren Wäldern. Ist das für Sie bedrückend oder sehen Sie es rational, als ein Problem, das Politiker lösen müssen?

Winfried Kretschmann: Es macht auch schon etwas mit mir persönlich. Eigentlich sind es diese Allzeitrekorde, die jetzt unentwegt auftauchen und mich am meisten betroffen machen: der trockenste Monat, das heißeste Jahr, die längste Folge von Tagen mit über 40 Grad – so geht das doch unentwegt. Da heißt es dann immer, seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Diese Rekorde häuften sich in den letzten zehn Jahren.

In Ohlsbach im Ortenaukreis sind Mitte Oktober 27,7 Grad gemessen worden, da beginnt eigentlich die Heizperiode. Ändern die Jahreszeiten ihren Charakter?

Kretschmann: Die kalten Winter, wie ich sie als Kind regelmäßig noch erlebt habe, gibt es nicht mehr. Das nehme ich seit längerem so wahr. Ich war so zwischen sieben und zehn Jahren alt, da sind wir Weihnachten in die Kirche gegangen, mussten drei Kilometer hinab ins Tal nach Zwiefalten laufen, ein Auto gab es nicht. Auf dem Rückweg nach Hause war mir so kalt, dass ich vor Schmerzen geweint habe. Mein Vater ist mit mir dann in einen Aussiedlerhof, damit ich mich aufwärmen konnte. Das waren noch knackige Winter. Oder ich erinnere mich an die letzte Seegefrörn, den gefrorenen Bodensee im Jahr 1963, da sind die Leute mit den Schlitten über den See ans andere Ufer, die Bilder sehe ich heute noch vor mir. Wetterextreme gab es immer, aber bei den ständigen neuen Rekorden merkt man, es ändert sich etwas dramatisch.

Hatten Sie in jüngster Zeit ein markantes Schlüsselerlebnis, wo Sie sich sagten, hier ist eine Folge der Erderwärmung und des Klimawandels unmittelbar spürbar?

Kretschmann: Kürzlich hatten wir Ministerpräsidenten eine Konferenz in Bayern und sind dabei auch auf die Zugspitze gefahren. Dort ist noch der winzige Rest eines Gletschers, der wird nächstes Jahr weg sein. Aber am meisten gepackt hat‘s mich bei einer Waldbegehung im Sommer im Kreis Waldshut, wo uns die Förster gesagt haben, sie müssten einen Wald aufgeben. So etwas hatte ich noch nie gehört. Sie mussten den Wald dem Borkenkäfer überlassen, weil sie weder genug Maschinen noch genug Waldarbeiter hatten, um das ganze geschädigte Holz schnell zu räumen. In dieser Formulierung kam die Fassungslosigkeit dieser gestandenen Förster zum Ausdruck, wie sie da sagen mussten: Wir müssen den Schädlingen den Wald zum Fraß überlassen. Da kam bei mir das Gefühl auf, es hat uns volle Kanne erwischt.

Ein anderes Ereignis, das ich nicht direkt dem Klimawandel zuordnen will, ist die Überflutung von Braunsbach durch Starkregen. Das war dramatisch, wie riesige Gesteinsbrocken in den Ort gespült worden sind. Ich fragte mich, wie kann das überhaupt physikalisch geschehen, wie kommen diese Steinmassen ins Dorf runter. Da steht man ungläubig, und fragt sich, welche Gewalt die Natur entfalten kann.

Die Natur wird sich verändern, wir werden uns anpassen müssen. Jetzt sind für die Wiederaufforstung unserer Wälder schon trockenresistente Baumsorten wie die Atlas-Zeder aus Nordafrika im Gespräch, die mit Buchen oder Eichen wenig Ähnlichkeit haben. Der deutsche Wald als Refugium wird sein Gesicht verändern, schlägt das nicht aufs Gemüt?

Kretschmann: Gefühlsmäßig will ich das noch nicht wahrhaben. Ich will nicht glauben, dass es den deutschen Wald – natürlich ist der mitteleuropäische gemeint – in vielleicht 100 Jahren flächendeckend so nicht mehr geben wird. Wir verbinden mit ihm eine große Emotionalität, die ganze Romantik, die uns als Deutsche tief geprägt hat. Dazu gehören die Worte von Günter Eich, wer könne leben ohne den Trost der Bäume und das geht bis zu den Grimm’schen Märchen. Ich hatte als Student eine Freundin aus Israel, die ging gerne in den Wald, das war für sie etwas Unglaubliches, was sie vom Mittelmeer nicht kannte: dieses satte Grün in seinen verschiedenen Farbtönen, diese Dichte und Kühle, diese Waldatmosphäre. Das hat sie fasziniert, und das habe ich gut verstanden.

Mit der zunehmenden Erwärmung wird es weniger Unfälle auf Eis und Schnee geben, wir sparen Heizöl und können im Herbst noch ins Freiluftcafé oder grillen. Kann man die positiven Aspekte des Klimawandels nicht auch genießen?

Kretschmann: Nein, das finde ich nicht. Natürlich ist das Wort vom goldenen Herbst eine schöne Metapher. Aber ich schaue morgens immer erst auf den Regenmesser und denke, es wäre besser, es würde regnen als schön warm zu sein im Herbst. Unsere Wälder brauchen 700 Millimeter Niederschlag im Jahr, wenn der ausbleibt, können die nicht existieren. Meine Frau ist eine Bauerstochter, sie hat ein intensives Interesse am Wetter, mein Schwiegervater konnte für jedes vergangene Jahr das Wetter angeben. Der Begriff gutes Wetter scheint in einen Störfunk geraten zu sein. Eigentlich müsste man sagen, ein richtig nasser Herbst, das ist schönes Wetter. Wir haben ein altes Haus, deren Grundmauern fast ein Meter dick sind, es ist im Sommer kühl und im Winter kriegt man es nicht so leicht warm. Seit 30 Jahren wohnen wir dort, und in diesem Sommer haben wir zum ersten Mal erlebt: das Haus ist warm. Das sind Dinge, wo man persönlich merkt, es ändert sich etwas.

Man spricht von Zwillingskrisen: Klimawandel und Artensterben und in dem Zusammenhang auch das Insektensterben. Wenn Sie sich als Biologe durch die Natur bewegen, fällt Ihnen der Verlust der Artenvielfalt auf?

Kretschmann: Den Artenschwund stelle ich selbstverständlich fest, aber die Gründe dafür liegen nicht nur im Klimawandel, sondern zum Beispiel auch in der Landwirtschaft. Die berühmte Glatthaferwiese, sozusagen der klassische Wiesentyp, ist fast verschwunden. Ich habe noch die Blumenwiesen von früher im Kopf. Als Kinder haben wir dort körbeweise die Blüten geköpft, um daraus Blumenteppiche für die Fronleichnamsprozession zu machen. Heute werden Biotope künstlich angelegt mit Samenmischungen. Dass die Glatthaferwiesen verschwanden, hängt auch mit der Gülledüngung zusammen und der häufigen Mahd. Wenn ich im Garten sitze, stelle ich fest, dass weniger Schmetterlinge fliegen, selbst das Tagpfauenauge, das man immer gesehen hat, ist selten geworden. Den Klimawandel bemerkt man auch an den Neophyten, also eingewanderten Pflanzen aus wärmeren Klimakreisen, die sich hier auf einmal ausbreiten. Beispielsweise das Indische Springkraut, das hätte früher die kalten Winter gepackt und die wären wieder weg. Das überlebt jetzt.

Schalten Sie ab auf Ihren Wanderungen?

Kretschmann: Als Biologe gehe ich botanisierend durch die Gegend, das ist ein gewisser Nachteil, wenn man das in sich hat, kann man es nicht mehr lassen. Wenn Sie mal die Sternbilder kennen, sehen Sie den Himmel nicht mehr als wirren Sternhaufen. So ist es bei mir auch. Ich kann nicht durch die Gegend gehen, ohne zu gucken, was da wächst oder lebt. Als Student haben wir Feldexkursionen gemacht mit dem Kescher, also einem Schmetterlingsnetz. Damit sind wir über die Wiesen gestreift und mussten Käfer und weitere Insekten bestimmen, da haben wir bis zu 30 Käferarten im Kescher gezählt. Heute wäre sicher weniger drin. Wir sehen das Insektensterben auch beim Autofahren – wir müssen an den Tankstellen nicht mehr unsere Scheiben von toten Insekten putzen.

Ängste und die Warnungen vor Bedrohungen gehören zur Politik. Aber was ist mit Panik? Haben Sie angesichts des Klimawandels manchmal panische Gefühle, die Sie sich als Politiker vielleicht nicht erlauben dürften?

Kretschmann: Ja, wenn ich Dokumentarberichte sehe darüber, was an den Polen, den Gletschern und den Korallenriffen passiert. Da hat man schon Panikattacken. Es wäre gelogen, würde ich etwas anderes behaupten. Aber deswegen verfalle ich nicht in Panik. Das muss man bekämpfen. In Panik reagiert man in der Regel nicht richtig, man muss einen kühlen Kopf in der Politik bewahren. Das ist anders in der Liebe. Wenn Sie verliebt sind, müssen Sie nicht am nächsten Tag rational darauf reagieren. Emotionen sind wichtig in der Politik, um etwas anzustoßen, für das Engagement. Aber wir dürfen uns nicht von Gefühlsaufwallungen leiten lassen. Ein Beispiel der vergangenen Monate: Da diskutiert man über die innerdeutschen Flügen. Man fragt die Menschen, warum sie fliegen und macht ihnen ein schlechtes Gewissen. Dabei spielen die innerdeutschen Flüge quantitativ bei den Emissionen keine große Rolle. Entscheidend sind doch die großen Emittenten von Treibhausgasen, zum Beispiel die Kohlekraftwerke. Auf diese Fragen müssen wir unsere Energie lenken: die CO2-Bepreisung, den Kohleausstieg, die energieeffizienten Gebäude und die Transformation zu emissionsfreien Fahrzeugen.

Auch Klimabewegungen setzen auf die Gefühle. Neben Fridays-For-Future ist die Gruppe Extinction Rebellion entstanden, die mit zivilem Ungehorsam arbeitet und Untergangsszenarien an die Wand malt. Sie spricht von „tödlicher Politik“, einem „mörderischen System“ und einer „existenziellen Bedrohung für dich und deine Familie“. Sind solche Töne gerechtfertigt?

Kretschmann: Ich halte das für höchst problematisch und sehe es sehr kritisch. Ich bekomme bisweilen den Eindruck, dass für Extinction Rebellion der Klimawandel eher ein Mittel, als ein Zweck selbst ist. Ich glaube, davon muss man sich abgrenzen, denn solche Aussagen gehen schnell an die Substanz der Demokratie. Das ist ein anderer Ansatz als bei Fridays for Future, die sind faktenbasiert und sagen, haltet Euch an die Empfehlungen der Wissenschaft.

Was erwarten Sie vom Weltklimagipfel in Madrid?

Kretschmann: Dass die Beschlüsse des Pariser Gipfel dort auch umgesetzt werden, dass es bei den Verpflichtungen und Zielen bleibt und dass man die Länder, die nicht mitmachen wollen, unter Druck setzt. Wenn wir heute den Klimaschutz anpacken, können wir das noch mit Maßnahmen tun, die erträglich sind für alle. Sie werden mit Zumutungen verbunden sein, aber sie bleiben zumutbar. Viele Dinge, die klimaschädlich sind, werden teurer werden, vieles wird man über Preise steuern können. Wenn wir die Maßnahmen aber hinauszögern, wird es immer teurer. Und wir geraten dann in eine richtige Verbots- und Gebotskultur hinein.

Sie sagen, Baden-Württemberg, das Tüftlerland, habe eine Verantwortung, nachhaltige Technologien zu entwickeln, um global dem Klimawandel entgegenzuwirken. Klingt nach Weltrettung. Ist der Anspruch nicht etwas vermessen?

Kretschmann: In vielen ärmeren Ländern mit hohen Emissionswerten, beispielsweise Indien und China, leben noch Millionen in richtiger Armut, nicht nur in relativer. Die wollen alle da raus und am Wohlstand teilhaben. Daran werden wir sie nicht hindern können. Wir müssen zeigen, dass Wohlstand ohne Klima- und Umweltzerstörung möglich ist, das ist unsere Aufgabe. Wir müssen beweisen, dass wir mit Hochtechnologie die wirtschaftliche Entwicklung vom Naturverbrauch und der Umweltzerstörung abkoppeln können. Wer sollte es sonst tun, wenn nicht wir? Wir haben die Möglichkeiten zu zeigen, dass es geht, wenn wir nur wollen und die Rahmenbedingungen dafür setzen. Ich bin überzeugt davon, dass die anderen folgen werden. Ein Beispiel: Die EnBW baut erste Windparks ohne Subventionen. Wenn wir belegen, dass sie kostengünstiger sind als Kohle- oder Atomkraftwerke, werden andere Länder sie auch bauen. Darauf kommt es jetzt an. Der Kohleausstieg gehört zu den wichtigsten Maßnahmen beim Klimaschutz. Aber er muss weltweit erfolgen.

Das Gespräch führte Christoph Link.

Quelle:

Das Interview erschien am 12. November 2019 in der Stuttgarter Zeitung.