Ministerpräsident Winfried Kretschmann fordert eine Debatte über Volksabstimmungen in Deutschland. Im Interview mit der Heilbronner Stimme sagt er: „Wir sollten die Möglichkeiten der Volksabstimmung erweitern, aber natürlich bleibt die parlamentarische Demokratie das Rückgrat unseres Staates.“ Zudem warb er dafür, dass Europa sich wieder mehr auf seine Kernkompetenzen konzentriere.
Heilbronner Stimme: Herr Ministerpräsident, seit acht Wochen regieren Sie mit der CDU. Stellt sich schon Routine ein?
Winfried Kretschmann: Routine hat sich noch nicht eingestellt. Wir befinden uns in der Gewöhnungsphase. Wir arbeiten aber gut und professionell zusammen.
Worin liegt der kulturelle Unterschied zwischen Grün-Rot und Grün-Schwarz?
Kretschmann: Das Bündnis mit den Sozialdemokraten wollten wir, das mit der CDU haben wir nicht angestrebt. Wir kommen aus ganz unterschiedlichen Richtungen und mussten erstmal ausloten, wie wir daraus etwas Produktives für das Land machen. Wir haben uns in den Koalitionsverhandlungen deshalb bewusst nicht auf die kleinsten gemeinsamen Nenner beschränkt und haben uns jeweils Raum gelassen für die jeweiligen politischen Schwerpunkte. Ich finde, wir sind auf einem guten Weg. In mancher Hinsicht tickt die CDU schon anders. Daran muss man sich gewöhnen. Allein an der Sprache merken wir, wie unterschiedlich wir sind.
Zum Beispiel?
Kretschmann: Wenn der Kollege Strobl aus dem Herzen heraus über innere Sicherheit redet, zieht so mancher Grüner das Genick ein.
Das hört sich anstrengend an.
Kretschmann: Anstrengend ist Politik an sich. Ich sage immer: Politik macht keinen Spaß, Politik macht Sinn. Ich kann für mein Amt sagen: Ich habe keinen problemfreien Tag. Aber ich habe Freude an der Arbeit, denn nirgendwo haben Sie größere Gestaltungsmöglichkeiten.
Sie selbst sind überzeugter Europäer. Wie kann die EU das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen - erst recht nach dem Brexit-Votum der Briten?
Kretschmann: Ich möchte meinen Amtsvorgänger Erwin Teufel zitieren: Wir müssen Europa vom Kopf auf die Beine stellen. An manchen Stellen brauchen wir mehr Europa, an manchen Stellen weniger Europa. Ganz klar, in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik brauchen wir mehr Europa. Gleichzeitig hören wir auf Landesebene zu oft von europarechtlichen Bedenken. Wir wollen wieder mehr selbst entscheiden. Die EU kümmert sich um zu viele Dinge, die wir selbst im Land und in den Kommunen besser regeln könnten.
Wo sehen Sie zu viel Europa in diesem Land?
Kretschmann: Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum unsere Sparkassen und Genossenschaftsbanken bei der Einlagensicherung unter dasselbe EU-Regime gestellt werden wie große Investmentbanken. Das passt nicht. Brüssel sollte einfach mal lernen, wie unsere Banken hier funktionieren, und uns dann in Ruhe lassen. Und wenn das Branntweinmonopol für Kleinbrenner fällt, sind unsere Streuobstwiesen gefährdet. Es wird zu viel in unsere lokalen Belange hineinregiert.
Wie kann man dieses Rad wieder zurückdrehen?
Kretschmann: Dass ein Land im Europäischen Rat ein Veto einlegen und damit Reformen blockieren kann, sollte durch das Mehrheitsprinzip ersetzt werden. Wir brauchen auch die Rückkehr zum Subsidiaritätsprinzip. Heißt: Die EU sollte nur dort initiativ werden, wo Bund, Länder oder Kommunen in der Kompetenz überfordert wären. Ich sehe die Schweiz als die richtige Blaupause für ein funktionierendes Europa. Die Schweiz ist eine Willensnation, mehrsprachig, sehr föderal aufgebaut. Genau so müsste Europa funktionieren. Die Schweizer Politik wird durch Volksabstimmungen geprägt.
Ein Modell für Deutschland?
Kretschmann: Auf kommunaler Ebene haben wir Bürgerentscheide erleichtert. Und auch die Hürden für Volksabstimmungen auf Landesebene hat der Landtag gesenkt. Bei Großprojekten gehen die Schweizer zweistufig vor. Sie lassen erst grundsätzlich über das Projekt abstimmen, dann ein zweites Mal über die geplante Finanzierung. Es ist wichtig, die Menschen in wichtigen Fragen miteinzubeziehen. Das machen wir generell über mehr Bürgerbeteiligung. Und in einzelnen Fragen können die Menschen über die Instrumente direkter Demokratie auch unmittelbar mitentscheiden. In Bayern hat sich das Prinzip auch bewährt.
Horst Seehofer hat direkt nach dem Brexit Volksabstimmungen auf Bundesebene gefordert. Brauchen wir diese Debatte?
Kretschmann: Wir müssen die Debatte über Volksabstimmungen auf Bundesebene führen. Laut Grundgesetz wird das Volk durch Wahlen und durch Abstimmungen beteiligt, wobei Abstimmungen bisher nur bei Länderneugliederungen erlaubt sind. Das ist zu wenig. Das Volk kann natürlich irren, aber das kann jedes Parlament auch. Wir sollten die Möglichkeiten der Volksabstimmung erweitern, aber natürlich bleibt die parlamentarische Demokratie das Rückgrat unseres Staates.
Die Österreicher wählen ihren Bundespräsidenten direkt. Können Sie sich das in Deutschland vorstellen?
Kretschmann: Nein, weil der österreichische Bundespräsident ganz andere Kompetenzen besitzt als der deutsche. Die Bundesversammlung ist das richtige Gremium für diese Wahl.
Haben Sie einen Wunschnachfolger für Joachim Gauck?
Kretschmann: Ich beteilige mich an dieser Debatte noch nicht. Der Bundespräsident ist noch fast ein Dreivierteljahr im Amt. Es liegen noch zwei Landtagswahlen vor uns. Da wird sich die Zusammensetzung der Bundesversammlung noch einmal verändern.
Schmeichelt es Ihnen, dass Sie als Kandidat genannt werden?
Kretschmann: Ach nein. Das schmeichelt mir nicht. Von Schmeicheleien sollte man sich fernhalten.
Im vergangenen Winter haben Sie mit Blick auf die Flüchtlingskrise gesagt: „Ich bete jeden Tag dafür, dass die Bundeskanzlerin gesund bleibt.“ Wünschen Sie sich, dass Frau Merkel noch lange Kanzlerin bleibt?
Kretschmann: Ob Frau Merkel Kanzlerin bleibt, bestimmt das Volk, nicht ich. Ich wünsche ihr noch lange gute Gesundheit. Sie ist in der EU die Regierungschefin, die sich am meisten für den Zusammenhalt Europas einsetzt. In der Hinsicht ist sie von großer Bedeutung für Europa. Aber natürlich ist niemand unersetzlich, dafür hilft der Blick auf den Friedhof.
Sie sind 68 Jahre alt. Sie sind voll eingebunden in einen Sieben-Tage-Job. Finden Sie die Zeit, sich abseits der Politik Wünsche zu erfüllen?
Kretschmann: Ich beklage mich nicht, so ist dieses großartige Amt nun mal. Sonst hätte ich nicht noch einmal antreten dürfen. Ich achte aber darauf, dass meine persönlichen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen. Wenn ich meinen Enkel sehe, wie er mich anlacht, dann löst das Herzensfreude aus. Diese Erlebnisse fehlen mir schon, wenn ich mal wieder zu wenig Zeit habe.
Die Fragen stellten Uwe Ralf Heer und Karsten Hammerholz.
Quelle:
Das Interview erschien am 8. Juli in der Heilbronner Stimme und wird hier in leicht gekürzter Form wiedergegeben.