Interview

„Es reichen schon wenige Unvernünftige, um das Virus zu verbreiten“

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Ministerpräsident Winfried Kretschmann während eines Interviews in der Bibliothek der Villa Reitzenstein (Bild: © dpa).

Im Interview mit dem Reutlinger General-Anzeiger spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die Ursachen der steigenden Infektionszahlen und warum sich der Föderalismus gerade in der Krise bewährt.

Reutlinger General-Anzeiger (GEA): Herr Ministerpräsident, Baden-Württemberg hat den Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten. Bundesweit gibt es mehr als 11.000 Neuinfizierte. Wie erklären Sie sich die Entwicklung?

Winfried Kretschmann: Es gibt mehrere Gründe. Die Menschen halten sich wieder vermehrt in geschlossenen Räumen auf. Zudem stellen sich gewisse Ermüdungserscheinungen ein, sodass die Corona-Regeln nicht mehr so genau befolgt werden. Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der Anstieg der Infektionen vor allem aus dem privaten Bereich herrührt, von privaten Familienfeiern oder von Partys junger Menschen. Deshalb haben wir die Kampagne Wellenbrecher gestartet, die genau auf diese Zielgruppe zugeschnitten ist. Wobei sich die meisten jungen Leute an die Regeln halten und solidarisch sind. Aber es reichen schon wenige Unvernünftige, um das Virus zu verbreiten.

Es gibt sehr viele Corona-Regeln und diese werden zudem öfters geändert. Ist das nicht verwirrend und trägt dazu bei, dass die Vorschriften nicht eingehalten werden?

Kretschmann: Die Corona-Maßnahmen richten sich nach dem lokalen und regionalen Infektionsgeschehen. Das ist vernünftig. Sonst müssten wir in Gebieten mit wenigen Infektionen harte Restriktionen erlassen. Das würde die Akzeptanz der Maßnahmen gefährden. Mittlerweile ist die Infektionsdynamik aber im ganzen Land so stark, dass wir mit der Pandemiestufe 3 auch landesweite Regeln verschärfen mussten. Das eine sind die Zahlen und der Anstieg der Infektionen. Doch Deutschland hat gelernt, mit dem Virus umzugehen.

„Es besteht kein Grund zur Panik, sondern zur Vorsicht“

Das Gesundheitswesen ist besser vorbereitet, in den Kliniken gibt es mehr Betten und Beatmungsgeräte. Wieso ist die Zunahme der Infektionen dennoch so gefährlich?

Kretschmann: In der Tat haben wir das Gesundheitssystem mit aller Kraft verstärkt und die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte massiv erhöht. Und die Krankenhäuser sind noch weit von ihrer Belastungsgrenze entfernt. Aber wenn wir warten würden, bis die Zahl von COVID-19-Patienten in den Kliniken in die Höhe schnellt, dann wäre es für ein Gegensteuern zu spät. Deshalb handeln wir jetzt entschlossen. Denn jede Entscheidung, die wir heute treffen oder auch nicht treffen, wirkt sich erst mit einigen Wochen Verzögerung auf die Krankenhäuser aus. Das Land ist aber gut vorbereitet auf die Pandemie. Es besteht kein Grund zur Panik, sondern zur Vorsicht.

Sie sagen, im Kampf gegen Corona komme es vor allem auf die Eigenverantwortung der Menschen an. Ist das politisch ausreichend vermittelt worden?

Kretschmann: Laut Umfragen sind über 80 Prozent der Befragten mit dem Krisenmanagement meiner Landesregierung bei Corona zufrieden. Was die Corona-Regeln anbelangt, halten nur zwölf Prozent diese für übertrieben. Aber bis zu 30 Prozent der Befragten gehen die Maßnahmen nicht weit genug sowohl im Land als auch bundesweit. Das ist ein erstaunliches Ergebnis. Es zeigt, dass die überwiegende Mehrheit mit unserer Politik einverstanden ist und nur eine kleine, laute Minderheit protestiert. Mein Kurs ist klar: Wir wollen die Schulen und Kitas offenhalten und die Kernbereiche der Wirtschaft am Laufen halten. Damit das gelingt, müssen aber die anderen Bereiche der Gesellschaft eine hohe Disziplin aufbringen.

Bei uns melden sich immer wieder Leser, die beklagen, dass die Corona-Regeln nicht eindeutig genug sind. Was antworten Sie diesen Menschen?

Kretschmann: Wir haben eine Maskenpflicht erlassen in Fußgängerzonen, in öffentlichen Einrichtungen und überall dort im öffentlichen Raum, wo der Mindestabstand von 1,5 Meter nicht immer eingehalten werden kann. Doch natürlich können wir als Landesregierung nicht exakt sagen, in welcher Straße oder an welchem Platz in jeder der über 1.000 Gemeinden im Land jemand den Mund-Nasen-Schutz aufsetzen muss. Da ist jeder selber aufgefordert, zu prüfen, ob er in der Innenstadt die Abstände einhalten kann. Aber wer einsam am Ufer der Echaz entlangläuft, muss natürlich keine Maske aufsetzen.

„Wir müssen genau beobachten, wie sich die Regelungen auswirken“

Wie werden Sie als Regierungschef auf den Anstieg der Infizierten reagieren? Werden die Corona-Regeln in Baden-Württemberg verschärft?

Kretschmann: Die Maßnahmen, die wir erlassen haben, wirken erst in sieben bis zehn Tagen. Deshalb müssen wir genau beobachten, wie sich die Regelungen auswirken. Mit den Ministerpräsidenten der anderen Bundesländer haben wir einen gemeinsamen Kurs festgelegt: Wenn die Maßnahmen innerhalb von zehn Tagen den Corona-Verlauf nicht stabilisieren, dann sind neue, schärfere Regeln zur Reduzierung der direkten Kontakte erforderlich. Daran halte ich mich. Es sei denn, wir stellen fest, dass die Pandemie aus den Fugen gerät und ein sofortiges Handeln erfordert.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder schlägt eine neue Corona-Warnstufe vor: Nach rot soll es auch noch dunkelrot geben. Denken sie auch über so etwas nach?

Kretschmann: Ich sehe dafür noch keinen Anlass. Ich bleibe bei dem bisherigen dreistufigen System. Darüber hinaus sind regionale Verschärfungen wie Ausgangsbeschränkungen jederzeit möglich.

Sozialminister Manne Lucha hat entschieden, dass sich Lehrer ab dem nächsten Monat nicht mehr kostenlos testen lassen können. Ist das angesichts der Infektionslage richtig oder wird da am falschen Ort gespart?

Kretschmann: Es geht nicht um die Kosten, sondern um die Testkapazitäten. Im Moment sind die Labore zu 100 Prozent ausgelastet. Wir überprüfen unsere Teststrategie laufend. Die Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums sieht weitere Testmöglichkeiten auch an Schulen vor. Doch bei der gegenwärtigen Infektionslage müssen wir uns gerade auch auf den Schutz älterer Menschen konzentrieren. Bei ihnen führt das Virus oft zu schweren Krankheitsverläufen.

„Wir sind gewohnt, Verantwortung zu übernehmen“

Die Ausbreitung des Virus hat auch eine Debatte über den Föderalismus ausgelöst. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordert mehr Einfluss des Bundes. Ist das sinnvoll, wenn die Lage doch von Kreis zu Kreis und von Land zu Land so unterschiedlich ist?

Kretschmann: Die Regeln unterscheiden sich kaum von Bundesland zu Bundesland. Sie werden nur entsprechend der jeweiligen Infektionslage angewandt. Das erscheint als ein großer Unterschied. Doch das ist so gewollt und es hat sich bewährt. Deutschland ist besser durch die Pandemie gekommen als andere Staaten, die zentralistisch regiert werden.

Hat sich der Föderalismus also in der Krisenzeit bewährt?

Kretschmann: Genau so ist es. Das hat auch einen Grund. Denn Länder und Kommunen haben eigenständige Bereiche, in denen sie handeln. Wir sind gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. In zentralistisch organisierten Ländern hingegen warten die Beamten, bis ein Erlass aus der Hauptstadt kommt. So lange passiert nichts. Zudem haben wir in Deutschland eine Konsenskultur. Die Ministerpräsidentenkonferenz agiert in der Regel einstimmig. Sie ist eine effiziente Konsensmaschine. Die unterschiedlichen Positionen werden gebündelt und in einen Kompromiss gegossen. So hat man auch die Gewähr, dass sich alle daran halten.

Grünen-Chef Habeck pocht auf mehr Mitsprache des Parlaments. Ist es nicht Zeit, den Notfallmodus zu verlassen?

Kretschmann: In Baden-Württemberg haben wir das klar geregelt. Der Landtag hat im Sommer ein Pandemiegesetz beschlossen, das ihm weitreichende Mitwirkungsmöglichkeiten gibt. Das ist deutschlandweit einmalig. Dabei haben wir darauf geachtet, dass einerseits die Regierung handlungsfähig bleibt und schnell Verordnungen erlassen kann. Andererseits muss der Landtag aber sofort informiert werden und dort werden die Verordnungen dann auch debattiert.

Menschen ab 60 Jahren zählen zur Risikogruppe. Viele Ältere fürchten eine Ansteckung. Wie gehen Sie persönlich mit dieser Gefahr um?

Kretschmann: Ich halte mich an die Regeln. Also Abstand halten, Maske tragen und Handhygiene. Dennoch gibt es keinen hundertprozentigen Schutz. Aber man muss alles tun, um die Gefahr zu reduzieren.

Die Fragen stellte Davor Cvrlje.

Quelle:

Das Interview erschien am Samstag, 24. Oktober 2020, im Reutlinger Generalanzeiger.