Interview

„Ich bin verhalten optimistisch“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bild: © dpa)

Im Gespräch mit dem Mannheimer Morgen spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über die aktuelle Corona-Lage und die Folgen für Baden-Württemberg.

Mannheimer Morgen: Herr Ministerpräsident, die Corona-Pandemie sorgt weltweit für große Unsicherheiten. Schon bei Menschen über 60 Jahren steigen die Risiken. Viele aus dieser Altersgruppe fürchten die Ansteckung. Wie geht es Ihnen persönlich damit?

Winfried Kretschmann: Ich fürchte keine Ansteckung, und ich schütze mich bestmöglich, indem ich mich an die AHA-Regeln halte und unnötige Risikokontakte weitestgehend vermeide. Ich habe mich gegen die Grippe und Pneumokokken impfen lassen, um andere Erkrankungen zu vermeiden. Aber generell habe ich keine persönlichen Ängste wegen Corona.

In vielen Familien und Freundeskreisen gibt es wegen der Corona-Maßnahmen heftigen Streit. Wie gehen Sie privat mit hartgesottenen Corona-Leugnern um?

Kretschmann: Es gibt in meinem Bekanntenkreis keine Corona-Leugner. Ein normales Gespräch mit Corona-Leugnern ist schwierig, weil sie nicht zu packen sind. Sie sammeln Gegenargumente willkürlich von Medizinern aus der halben Welt, was ihnen halt gefällt. Ich bin ein bisschen ratlos, wie ich mit solchen Leuten reden soll, damit irgendwas dabei herauskommt.

„Ich bin erstaunt, wie Menschen in Verschwörungstheorien abdriften“

Suchen Sie Zugang als Politiker?

Kretschmann: Ich bin höchst erstaunt, wie Menschen wie du und ich in Verschwörungstheorien abdriften. Untersuchungen belegen, dass bis zu 30 Prozent der Bevölkerung offen sind für solche Thesen. Aber ganz ehrlich, als Verantwortliche haben wir gerade noch andere Sorgen als diese Gruppen. Denn es ist ja auch so, dass ein überwiegender Großteil der Bevölkerung mit den Maßnahmen einverstanden ist. Diese müssen wir bei der Stange halten. Grundsätzlich muss ich mich persönlich immer wieder mit der Frage befassen, wie man die Menschen anspricht, die sich komplett abwenden. Denn als ein durch naturwissenschaftliches Studium und Fakten geprägter Mensch tue ich mich schwer mit irrationalen Ansichten. Da werde ich relativ schnell unkommod.

Die Zahl der Corona-Infektionen steigt derzeit stetig an. Brauchen wir schneller härtere Regeln mit Sanktionen?

Kretschmann: Wir denken immer wieder darüber nach, schärfere Maßnahmen zu ergreifen, aber die Bevölkerung muss das auch einsehen. Wir haben ja immer wieder Verordnungen erlassen, bevor die ernste Lage eingetreten ist. Das macht ja auch am meisten Sinn, wir müssen eben immer wieder vor die Pandemie kommen. Vorsorgen statt Hinterherkorrigieren. Aber die Akzeptanz von Regeln ist erst dann stärker, wenn die Menschen schlimme Bilder sehen. Die Bilder aus Bergamo hatten eine abschreckende Wirkung.

Viele junge Menschen brachten nach Party- Urlauben im Sommer das Virus ins Land. Müssen die Jungen mehr Solidarität mit den mehr gefährdeten Alten üben?

Kretschmann: Ja, das sehe ich so, und das müssen wir immer wieder sagen. In jungem Alter ist man halt nicht so gefahrenorientiert. Leichtsinn gehört zur Jugend dazu. Beim Klimawandel müssen die Alten mit den Jungen solidarisch sein, in der Corona- Pandemie die Jungen mit den Alten. Aber ich will auch sagen: Es gibt viele junge Menschen, die sich in der Krise sehr verantwortlich einbringen, denken Sie zum Beispiel an die jungen Mediziner, die sich im Frühjahr freiwillig eingebracht haben.

„Nicht groß in der Gegend herumreisen“

In manchen Ländern stehen Herbstferien an. Wäre jetzt besser, alle blieben zu Hause?

Kretschmann: Vielleicht sollten die Bürger in den Herbstferien nicht groß in der Gegend herumreisen. Weder im Inland noch im Ausland und schon gar nicht in Risikogebiete. Ich bin am Freitag auch nicht zur Bundesratssitzung gereist, weil in Berlin die Infektionszahlen so hoch sind.

Müssen wir in diesem Jahr auf Weihnachtsmärkte verzichten?

Kretschmann: Wenn die Infektionszahlen weiter so ansteigen, dann wird es sehr schwierig, Weihnachtsmärkte zu veranstalten. Da sollten wir uns mal nichts vormachen. Jetzt kommt es darauf an, dass es in den Kernbereichen der Gesellschaft, also in der Bildung, Wirtschaft und Gesundheit, nicht zu scharfen Einschnitten kommt. Bei verzichtbaren Events sollten wir eher Opfer bringen, um den Kernbereich aufrechterhalten zu können. Wir müssen mit Blick auf Restriktionen in den Freizeitbereichen härter und in den Kernbereichen softer sein.

In der Krise ist das Vertrauen der Bürger in Kanzlerin Angela Merkel wieder gewachsen. Besorgt Sie ihr anstehender Rückzug?

Kretschmann: Ich bin überzeugt davon, dass uns diese Kanzlerin fehlen wird. Nicht nur wegen der Pandemie, sondern auch wegen der vielen autoritären Regimes und Regierungschefs in der ganzen Welt, die sich im Amt so benehmen, wie man es sich nie vorstellen konnte. Angela Merkel ist eine krisenerfahrene Regierungschefin. Sie hat Ausdauer und einen langen Atem. Ich bin ganz froh darüber, dass ich nur Ministerpräsident bin und nicht mit den Putins, Trumps und Orbáns dieser Welt telefonieren muss. Ihre unprätentiöse Art ist etwas, was sehr gut zu einer Krisenpolitikerin passt. Wohin man in der Welt auch kommt, beneiden uns alle um eine solche Kanzlerin.

Noch einmal zurück zum Corona-Alltag. Wie bewerten Sie den Start des Schulbetriebs unter Pandemie-Bedingungen?

Kretschmann: Ich bin positiv überrascht davon, wie gut der Präsenzunterricht läuft. Wir können richtig zufrieden sein: Gerade mal 338 Klassen an 193 Schulen haben Fernunterricht, und geschlossen sind derzeit nur drei von 4.500 Schulen. Wir haben eine gute Lösung gefunden und haben noch was in petto, wenn es schwieriger wird, zum Beispiel könnte man das Tragen von Masken in weiteren Bereichen vorschreiben oder eine generelle Maskenpflicht im Unterricht einführen.

„Eine breit aufgestellte Wirtschaft ist robuster gegen Krisen“

War die teils heftige Kritik an den Corona- Maßnahmen der Kultusministerin berechtigt?

Kretschmann: Das kann ich im Einzelnen nur schwer beurteilen. Vielleicht hätte man die Maßnahmen enger mit den Schulträgern kommunizieren können. Diese Kritik habe ich öfter gehört. Solche Dinge muss aber die Ministerin selbst wissen und entscheiden, und das tut sie ja auch.

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Die Experten sind uneins, wie es nach dem massiven Einbruch der Wirtschaft weitergeht. Wie schätzen Sie das ein?

Kretschmann: Ich bin verhalten optimistisch. Die Frage ist, ob es so steil wieder aufwärtsgeht, wie es abwärtsging. Ich habe von der befristeten Absenkung der Mehrwertsteuer nicht viel gehalten und fühle mich bestätigt. Man merkt zu wenig im Massenkonsum. Bei größeren Anschaffungen wie Kühlschrank oder Auto hatte ich erwartet, dass es mehr hilft. Das ist offenbar nicht der Fall. Aber vielleicht zieht der Konsum ja noch an, kurz bevor die Maßnahme Ende des Jahres ausläuft.

Warum setzt das Konjunkturprogramm des Landes so stark auf die Gesundheitswirtschaft?

Kretschmann: Eine breit aufgestellte Wirtschaft ist robuster gegen Krisen. Das sehen auch die Experten der Landesbank so. Deshalb gehen wir diesen Weg konsequent gerade bei den großen Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz, Transformation und Gesundheitswirtschaft. Vor allem aber kann die Gesundheitswirtschaft zu einem echten Wachstumsmotor für unser Land werden. Schon heute sind wir in der Medizintechnik führend. Schon heute arbeiten über eine Million Menschen im Gesundheitsbereich. Die Digitalisierung wälzt das Gesundheitswesen noch mehr um als die Autoindustrie, und das führt zu einem gigantischen Umbruch bei weltweit scharfer Konkurrenz. Das unterstützen wir. Ein Viertel der 1,2 Milliarden Euro des Nachtrags fließt in innovative Projekte im Gesundheitswesen.

Frühere Krisen haben Baden-Württemberg meist härter getroffen als andere Länder. Aber es ging dann auch schneller wieder nach oben. Wird das wieder so?

Kretschmann: Das ist schwer zu prognostizieren. Die Automobilindustrie hat ja nicht nur mit der Pandemie zu tun, sie steckt auch in einem grundlegenden Transformationsprozess. Das ist viel Holz auf einmal für unsere Firmen. Die Pandemie hat auch gezeigt, dass wir zum Beispiel bei der Digitalisierung große Baustellen haben. Unser Ehrgeiz ist jedenfalls, dass wir stärker aus der Krise kommen. Ich bin optimistisch, dass in ein paar Jahren Tesla in die Rücklichter von Porsche und Daimler gucken wird.

Die Fragen stellten Ulrike Bäuerlein, Peter Reinhardt und Michael Schwarz

Die Fragen zur bevorstehenden Landtagswahl geben wir hier aus Neutralitätsgründen nicht wieder.

Quelle:

Das Interview erschien am 10. Oktober 2020 unter anderem im Mannheimer Morgen.
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