Interview

„Oper und Ballett sind Aushängeschilder des Landes“

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bild: dpa).

Kunst und Kultur seien Bestandteil seines Lebens, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit der Stuttgarter Zeitung. In der Bibliothek der Villa Reitzenstein, dem Sitz des Staatsministeriums, sprach Kretschmann über die Sanierung der Oper, einen Neubau für das Linden-Museum, die Unfreiheit eines Herrschers und die Gefahr postfaktischer Diskurse für unsere Demokratie.

Stuttgarter Zeitung: Herr Kretschmann, lassen Sie uns mit einem Ihrer Vorgänger im Amt beginnen. In Ihrer Trauerrede auf Lothar Späth haben Sie gesagt: „Kunst und Kultur waren ihm ein persönliches Bedürfnis.“ Wie ist das bei Ihnen?

Winfried Kretschmann: Ganz ähnlich: Kunst und Kultur sind Bestandteil meines Lebens. Ich gehe leidenschaftlich gerne in die Oper, die ich als Königin aller Bühnenkünste betrachte. Musik, Bühnenbild und szenische Aktion kommen hier zusammen, um alte, überlieferte Stoffe zu behandeln. Und ich bewundere die Kreativität der Regisseure, die daraus Konflikte schälen, die uns existenziell heute noch immer etwas angehen. Jeden Opernbesuch empfinde ich deshalb nicht nur als höchst vergnüglich, sondern auch als höchst inspirierend.

Wie stehen Sie als Opernfan dann zur anstehenden Opernsanierung in Stuttgart?

Kretschmann: Zur Oper müssen wir in Stuttgart immer auch das im selben Gebäude untergebrachte Ballett rechnen. Wenn wir das tun, erkennen wir: Das Stuttgarter Opernhaus ist für das Land so wichtig wie der Daimler! In dieser Kategorie müssen wir denken, drunter geht das nicht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Oper häufig zur Oper des Jahres gewählt worden, während das Ballett eine der wichtigsten und bekanntesten Kompanien der Welt ist sowie eine der weltweit führenden Ballettschulen betreibt. Oper und Ballett sind mithin Aushängeschilder des Landes und bieten Spitzenqualität – und wenn wir das Haus sanieren und erweitern, müssen wir dieser Qualität gerecht werden. Wir müssen nicht klotzen, aber etwas Erstklassiges bauen.

„Baden-Württemberg ist Schiller“

So erstklassig wie die Elbphilharmonie in Hamburg, aber ganz ohne Kostenexplosion?

Kretschmann: Eine Kostenexplosion wie in Hamburg darf es bei uns nicht geben. Na ja, aber ganz abgesehen davon wird die Elbphilharmonie jetzt ja trotzdem gefeiert. Das ist ja oft das Paradox: Viele Kulturschätze, auf die wir stolz sind, haben sich Orgien der Verschwendung zu verdanken. Nehmen Sie die Schlösser in Ludwigsburg und Schwetzingen, wo auf Kosten der Untertanen geklotzt wurde. Trotzdem erfreuen wir uns heute an diesen Juwelen. Deshalb darf auch ein demokratisch regiertes und wirtschaftlich erfolgreiches Land wie Baden-Württemberg bei Investitionen in die Kultur nicht sparen. „Krombiera statt Kunst“ war gestern, das ist nicht mehr schwäbisch. Baden-Württemberg ist Schiller, seine Ästhetik, seine Philosophie. Auf diesem Niveau bewegen wir uns: Die Kultur ist genauso wichtig wie Industrie 4.0.

Für die Zeit der Sanierung brauchen Oper und Ballett eine Übergangsspielstätte. Wie sehen da Ihre Pläne aus?

Kretschmann: Da halte ich mich zurück. Auch wenn Land und Stadt die gemeinsamen Träger der Württembergischen Staatstheater sind, ist die Interimsspielstätte eher eine Angelegenheit der Stadt, allein deshalb, weil das Land nicht über städtische Flächen verfügen kann. Aber auch hier müssen selbstverständlich hohe Maßstäbe angelegt werden, die baulich und städtebaulich überzeugen.

Wie stark ist – im Zuge der anstehenden Opernsanierung – Ihr Interesse an einer Aufwertung der Konrad-Adenauer- Straße, die gerne als Kulturmeile bezeichnet wird, obwohl sie faktisch noch eine PS-Meile ist?

Kretschmann: Das wäre grundsätzlich schon richtig. Als Landeshauptstadt ist Stuttgart der Sitz der Regierung. Und inmitten des Ensembles hervorragender Kulturinstitutionen an der Konrad-Adenauer-Straße liegt der Landtag, der mit seiner transparenten Fassade ein architektonischer Meilenstein ist: gebaute Demokratie, wie man sie in dieser Reinform nur selten findet. Die Kulturmeile städtebaulich aufzuwerten wäre also ein wichtiges Anliegen, ebenso wie die Aufwertung des Stuttgarter Linden-Museums.

Was stellen Sie sich beim Linden-Museum mit seiner bedeutenden ethnologischen Sammlung konkret vor?

Kretschmann: Ein Neubau auf dem Gelände von Stuttgart 21 wäre wünschenswert, ein kulturelles Highlight nach all den hitzigen Auseinandersetzungen um das Milliardenprojekt notwendig. Das Völkerkundemuseum, das am Hegelplatz nur ungenügend untergebracht ist, könnte diese Funktion übernehmen. Umgestaltet zu einem „Haus der Kulturen“ könnte es die Wurzeln der vielen verschiedenen Ethnien zeigen, die heute in Stuttgart und Baden-Württemberg zusammenleben. Gerade eine Einwanderergesellschaft wie die unsrige braucht so ein Haus, das dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft enorme Dienste leisten könnte – ein kultureller Glanzpunkt, den wir auf dem S-21-Areal setzen müssen.

Lassen Sie uns zurück auf die Oper und ihre alten, mythischen Stoffe kommen. Was fasziniert Sie so daran?

Kretschmann: Es kommt darin immer das zur Sprache, was den Menschen im Kern berührt und bewegt. Wenn ich Homer lese, was ich in meinem Griechenland-Urlaub immer mache, habe ich das Gefühl, dass zwar die Technik im Lauf der Jahrtausende fortgeschritten ist, nicht aber der Mensch, der sie entwickelt hat. Diesen Menschen treiben noch immer die gleichen Gefühle und Konflikte um.

„Was darf ich hoffen? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch?“

Nehmen Sie, ganz aktuell, das Thema Krieg: Wie kommt es dazu, was richtet er mit Menschen und Gesellschaften an, wie gelingt Versöhnung und Frieden? Kant hat einst vier Menschheitsfragen formuliert: „Was darf ich hoffen? Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch?“ – genau darum kümmert sich die Kunst, indem sie mit ihrer Kreativität diese Fragen immer wieder zeitgenössisch zuspitzt. Eingeschnitzt in ein Kant-Holz, als Geschenk des Kant-Gymnasiums in Weil am Rhein, liegen diese philosophischen Sätze im Übrigen immer auf meinem Schreibtisch.

Homer, Kant, große Namen - und was für ein Buch lesen Sie jetzt gerade?

Kretschmann: „Die Welt des Parmenides“ von Karl Popper. Der Philosoph setzt sich darin mit den Vorsokratikern auseinander und deutet sie so, dass sie mit seinem eigenen Lebensthema etwas zu tun haben, mit „Der offenen Gesellschaft und ihren Feinden“, wie sein Hauptwerk heißt. Die Lektüre des Buchs ist enorm schwer, aber ein großes intellektuelles Vergnügen.

Verändert diese Auseinandersetzung mit Philosophie und Kunst denn auch Ihre konkrete Politik?

Kretschmann: Selbstverständlich. Sie gibt mir einen inneren Kompass, an dem ich mich ausrichten kann. Jenseits von Hannah Arendt, deren politische Philosophie mir immer Wegmarken setzt, wurzelt mein Denken tief in der griechischen Polis. Deren Grundsatz lautet: Frei ist, wer auf der Agora frei reden kann und von niemandem abhängig ist, der also weder Herrscher noch Beherrschter ist.

Denn das ist ja das Interessante: Auch der Herrscher ist nicht frei, was ich schließlich seit einigen Jahren verschärft an meiner eigenen Person erfahre. Als Ministerpräsident unterliege ich zahllosen Zwängen und bin eingehegt durch das Amt, durch Gesetze, durch Abläufe und Vereinbarungen und tausend andere Regeln. Ich übe einen hochgradig dienenden Beruf aus, der mit Herrschaft nicht viel zu tun hat.

Trotzdem fühlen sich immer mehr Menschen von der politischen Elite beherrscht und – mehr noch – betrogen.

Kretschmann: Das ist ein Teil der halb Europa erfassenden Krise: dass immer größere Teile der Bevölkerung zu den Rechtspopulisten abwandern, weil sie glauben, sie würden von einer Elite beherrscht werden. Das ist ein Irrtum. Deshalb habe ich mein Amt auch mit der „Politik des Gehörtwerdens“ begonnen, mit Anstrengungen, den Bürger direkter an Entscheidungen zu beteiligen. Der Atem der athenischen Demokratie muss wieder spürbar werden: Freie Bürger reden frei und treffen Entscheidungen. Nicht zuletzt daran sieht man hier, was für ein enormer Bruch es ist, wenn die AfD die Presse bei ihrem Parteitag ausschließt. Denn man muss nicht nur frei reden dürfen, man muss auch frei reden wollen im öffentlichen Raum, wozu zwingend die Verbreitung der Reden in der Öffentlichkeit gehört.

„Alle Politik beginnt mit Sprache“

Wie sollte man mit einer Partei, die sich nicht an solch fundamentale demokratische Spielregeln hält, umgehen?

Kretschmann: Alle Politik beginnt mit Sprache. Wie in den sozialen Medien beobachte ich auch bei der AfD eine Verrohung und Brutalisierung der Sprache, die mit Verachtung der Institutionen einhergeht. Das muss ein Weckruf für alle Demokraten sein: Unsere Sprache muss geprägt sein von Respekt und Klarheit, weshalb wir, was die Klarheit anlangt, auch bei der Political Correctness wieder das richtige Maß finden sollten. Dass wir heute nicht mehr Krüppel, sondern Behinderte sagen, ist ein enormer Fortschritt, der die Würde des Menschen bewahrt. Aber Behinderte jetzt zu Menschen mit Handicap zu machen und am Ende zu sagen, alle Menschen hätten ein Handicap, das vernebelt die Sachverhalte.

Aus Angst, das Falsche zu sagen, dürfen wir die Dinge nicht in Plastikwörter und Plastiksätze packen, die am Ende niemand mehr versteht. Klar ist aber auch, dass das Verhältnis von Klarheit und Respekt immer wieder neu ausgelotet werden muss, um politische Auseinandersetzungen vernünftig führen zu können: Zivilisierter Streit hält eine Gesellschaft zusammen, unzivilisierter treibt sie auseinander.

Führen auch Gerüchte und falsche Behauptungen zum unzivilisierten, die Gesellschaft spaltenden Streit?

Kretschmann: Ja, denn wir können uns nur über Vernunftgründe einigen, nicht über Glaubensfragen, wo wir keinen Konsens erzielen können. Vernunftgründe aber basieren auf Fakten, weshalb postfaktische Diskurse, die nicht mehr an Tatsachen orientiert sind, jede Übereinkunft zwischen gesellschaftlichen Gruppen unmöglich machen. Am Ende schlagen wir uns die Köpfe ein oder, um es etwas vornehmer abermals mit Kant zu sagen, „wir zwingen einander eine Verfassung auf“. Postfaktische Diskurse sind das Gefährlichste, was einer Demokratie heute überhaupt zustoßen kann.

Das Gespräch führte Roland Müller.

Quelle:

Das Interview erschien am 22. Dezember 2016 in der Stuttgarter Zeitung.
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