Interview

„Wir können auch Krise“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann

Ministerpräsident Winfried Kretschmann will wegen der Flüchtlingskrise den Bau neuer Wohnungen erleichtern. „Da müssen wir mit Augenmaß beim Kampf gegen den Flächenfraß pausieren“, sagt der Regierungschef im Interview mit der Heilbronner Stimme. Von einer Unterbringung in Turn- und Messehallen müsse man möglichst schnell wegkommen.

Heilbronner Stimme: Ihre Regierungszeit fällt in eine ungewöhnlich lange Aufschwungphase mit steigenden Steuereinnahmen. Empfinden Sie das als Glücksfall?

Winfried Kretschmann: Ohne jeden Zweifel. Wenn ich mir vorstelle, dass in Deutschland wirtschaftliche Probleme wie etwa in Frankreich mit der Flüchtlingskrise zusammenfallen würden, wären wir in sehr, sehr schweren Gewässern. Es ist ein Glücksfall, dass die Herausforderung durch den Zuzug von Asylbewerbern in eine Phase der Prosperität fällt. Nur so können wir so handeln, wie wir es tun und so viele Flüchtlinge aufnehmen. Außerdem hat dazu beigetragen, dass wir vier Mal in einer Legislatur ohne neue Schulden auskommen, was noch keine Regierung im Land davor geschaffen hat, und gleichzeitig so viel in die Bildung unser Kinder investieren konnten wie nie zuvor.

Ihre Regierung konnte viele politische Verbesserungen finanzieren. Wie sehr wird die Bilanz im Wahlkampf durch die Flüchtlingskrise überlagert?

Kretschmann: Die Dinge kommen, wie sie kommen. Wenn man Krisen planen könnte, gäbe es sie nicht. Die Kommunen und die Länder liegen am Ende der Wirkungskette und haben auf die großen europäischen Fragen oder die Fluchtursachen nicht den großen Einfluss. Bei der Unterbringung haben wir insbesondere in Baden-Württemberg aber gezeigt: Wir können auch Krise.

Wie lange halten Sie eine Unterbringung in Turn- und Messehallen für humanitär zumutbar?

Kretschmann: Das kann nur temporär sein. Davon müssen wir möglichst schnell wegkommen. Ich gehe davon aus, dass der Flüchtlingsstrom abnehmen wird, zum einen wegen des aktuellen schlechten Wetters am Mittelmeer, zum anderen da die Maßnahmen zu wirken beginnen, die die Bundesregierung und die EU in der Türkei und an den EU-Außengrenzen ergriffen haben. Aber klar ist auch: Wenn die Kapazitäten dann nicht reichen, ist es besser, Traglufthallen zu nutzen, denn Turnhallen werden schließlich für den Unterricht oder von Sportvereinen benötigt.

Auf Landesebene wird die Anschlussunterbringung wichtiger. Sie wollen den Wohnungsbau mit besseren Abschreibungsangeboten für Investoren ankurbeln. Was muss man anbieten?

Kretschmann: Für Investoren muss es attraktiv sein, in sozialen Wohnungsbau zu investieren, zum Beispiel durch steuerliche Abschreibungsmodelle. Ich bin überzeugt, dass so privates Kapital mobilisiert werden kann. Für den sozialen Wohnungsbau wird die vom Bund bereitgestellte halbe Milliarde nicht reichen.

Muss nicht auch das Land beim sozialen Wohnungsbau nachlegen?

Kretschmann: Wir müssen zuerst die steuerlichen Abschreibungsregeln schnell über die Bühne bekommen und gucken, wie die wirken. Dann wird man sehen, ob die öffentliche Hand noch mal nachsteuern muss. Im Übrigen haben wir die Wohnraumförderung gegenüber der Vorgängerregierung um 60 Prozent erhöht. Dazu kommen noch einmal 60 Millionen Euro für die Kommunen für den Bau von Flüchtlingsunterkünften.

Ihre Regierung will den Flächenverbrauch durch vorrangige Nutzung von innerörtlichen Bauflächen verringern. Sind da Lockerungen notwendig?

Kretschmann: Wir müssen die Flächen zur Verfügung stellen, die gebraucht werden, diese Zusage steht. Da müssen wir mit Augenmaß beim Kampf gegen den Flächenfraß pausieren, ohne diesen im Ganzen aufzugeben. Wichtig ist allerdings, es geht hier um temporäre Maßnahmen, die wir ergreifen, so lange die Krise anhält.

Anderes Thema: Der Individualverkehr steigt immer weiter. Müssen die Grünen dieser Realität noch Rechnung tragen?

Kretschmann: Das glaube ich eigentlich nicht. Man kann da an vielen Schrauben drehen. Wir müssen prioritär die großen Verkehrsachsen ausbauen, allerdings fehlen dafür die Gelder beim Bund. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht: Wir geben in diesem Jahr so viel Geld für Landesstraßen aus wie keine Regierung zuvor. Zweitens braucht man mehr Intelligenz. Nur mit einer intelligenten Steuerung wird der Verkehr flüssiger und schneller. Und wir brauchen einen leistungsfähigen öffentlichen Nahverkehr. Es darf nicht sein, dass man mit Bahn und Bus länger braucht als mit dem Auto.

Sie haben am Beginn des Abgasskandals bei VW vor bleibenden Folgen für den Wirtschaftsstandort gewarnt. Geht das jetzt doch weniger schlimm aus?

Kretschmann: Ich habe befürchtet, dass so ein schwerer Vertrauensbruch den guten Ruf von Made in Germany diskreditiert. Der Eindruck hat sich zum Beispiel bei meinem Besuch in China nicht bestätigt. Wir können davon ausgehen, dass das als singulär wahrgenommen wird. Das ist schlimm genug für den VW-Konzern und seine Töchter im Land. Zugleich: Sowas wird sicher nie wieder gemacht. Jeder weiß, dass man damit ein bärenstarkes Unternehmen aufs Spiel setzt.

Quelle:

Heilbronner Stimme
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