Vortrag

„Getrennt, aber nicht gleichgültig. Weiterentwicklung einer ausbalancierten Trennung von Staat und Religion“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei seinem Vortrag bei der Kooperationstagung „Freiheit von | für | mit Religion?“ am 18. Oktober 2013 in Stuttgart-Hohenheim

Im Rahmen der Kooperationstagung „Freiheit von | für | mit Religion?“ der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und des Staatsministeriums Baden-Württemberg  am 18. Oktober 2013 in Stuttgart-Hohenheim hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann folgenden Vortrag zum Thema „Getrennt, aber nicht gleichgültig. Weiterentwicklung einer ausbalancierten Trennung von Staat und Religion“ gehalten:

"Meine sehr verehrten Damen und Herren!

„Der Sinn von Politik ist Freiheit.“  Mit dieser prägnanten Aussage machte Hannah Arendt deutlich, dass sie die Freiheit als den überragenden Wert in der Politik bewertete.

Wie für den Kirchenvater Augustinus, auf den sie sich berief, war für Hannah Arendt jeder Mensch ein Neuanfang, weil kein Mensch vor und nach ihm genauso ist wie dieser. „Initium ut esset, creatus est homo“, heißt der Satz von Augustinus. Weil jeder Mensch, der geboren wird, ein Neuanfang ist, entsteht eine Pluralität des Humanen, die für Hannah Arendt die Grundlage aller Politik überhaupt war.

„Politik“ – so stellte sie fest – „beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“  Erst durch diese Pluralität entsteht Politik, denn „Politik handelt von dem Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen.“

Freiheit als konstitutives Merkmal des modernen Staates

Zum modernen Verfassungsstaat gehört also, dass er die Freiheit des Menschen in ihrer Pluralität und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sichert. Innerhalb dieses vom Staat geschaffenen Rahmens kann sich der Einzelne frei entfalten.

Der freiheitliche und demokratische Staat selbst soll jedoch keine eigene Weltanschauung propagieren. Die „echteste Rechtfertigung der Demokratie“  – so die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch – besteht darin, dass sie ihren Bürgern keine Ideologie, keine Weltanschauung und keinen Moralismus aufdrängt. Die Demokratie – ich zitiere sie nochmals – „bemüht sich vielmehr, für jedes menschliche Wesen einen Leerraum zu wahren, der ihm erlaubt zu denken, zu glauben, zu hoffen und zu handeln, wie es ihm sein inneres Gewissen eingibt.“  Die politische Freiheit ist also eine „durch die Demokratie geschützte Leere“ , also eine „leere“ Freiheit, die von den Menschen gefüllt werden muss.

Unser Gemeinwesen braucht deshalb Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Freiheit etwas anzufangen wissen. Es braucht Menschen, die an etwas glauben, die von etwas überzeugt sind, die sich für ihre Werte und Ideale einsetzen. Denn „frei sein heißt, etwas ganz Bestimmtes unbedingt zu wollen“.

Dieser unbedingte Wille des Einzelnen steht jedoch in der Gefahr, sich in Egoismen zu verrennen oder wirkungslos zu verpuffen. Damit dies nicht passiert, brauchen Menschen die Erfahrung, dass sie mit anderen zusammen gemeinsame Werte haben und diese miteinander leben können. Gemeinsame Werte sind aber nicht einfach schon da; sie werden vielmehr in Gemeinschaften entwickelt, gelebt und weitergegeben. Gemeinschaften fördern Verbindlichkeit und stärken die Identifikation mit dem Ganzen.

Wenn der Staat aber eine „leere“ Freiheit anbietet, wenn – wie es in der vielzitierten Formulierung des Staatsrechtlers und früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde heißt – „der freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ , dann braucht er solche Gemeinschaften. Denn die Gesellschaft ist nicht einfach nur ein Konglomerat und die Summe aller Individuen, sondern immer auch eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften bilden das gesellschaftliche Wertefundament aus, auf dem der Staat überhaupt erst existieren kann.

Der demokratische und freiheitliche Staat existiert nicht abstrakt und von der Gesellschaft unabhängig, sondern er wird von dieser Gemeinschaft der Gemeinschaften getragen und lebt aus ihren moralischen und sozialen Qualitäten und Quellen.

Individuelle und korporative Religionsfreiheit

Das bisher Gesagte gilt unbestreitbar auch für die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. So heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes – ähnlich wie auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention: „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Es wird also zunächst der persönliche Glaube und selbstverständlich auch Unglaube geschützt. Religion ist Privatsache, wenn es darum geht, dass und wie der Einzelne den staatlich freigehaltenen Leerraum mit seiner Freiheit füllt. Bei diesen allerpersönlichsten Entscheidungen hat der Staat nichts verloren.

Religion verlässt aber den Raum des Privaten, wo sie als Gemeinschaft oder – wie es das Grundgesetz formuliert – als Religionsgesellschaft Teil der Zivilgesellschaft ist und damit für ein demokratisches Gemeinwesen und für den Staat konstitutiv wird.

Unsere Verfassung enthält sich einer  Bewertung der Religionen und bleibt selbst religiös neutral. Aber sie erkennt und anerkennt neben dem persönlichen eben auch den gesellschaftlichen und gesellschaftsrelevanten Charakter der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie schützt also nicht nur die individuelle Religionsfreiheit – also die private Religionsfreiheit des Einzelnen, sondern auch eine korporative Religionsfreiheit – also die Freiheit zur gemeinschaftlichen Ausübung von Religion im öffentlichen Raum.

Trennung als ausbalancierte Trennung

Nun meinen manche, in unserer säkularen Gesellschaft eine nachlassende Bindekraft des Religiösen und eine nachlassende Überzeugungskraft des religiösen Arguments wahrnehmen zu können. Selbst wenn diese Wahrnehmung stimmt, kann aus ihr noch lange nicht die Konsequenz gezogen werden, das Religiöse aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und eine scharfe Trennung von Gesellschaft und Religion anzustreben.

Im Gegenteil: Jürgen Habermas, der sich bekanntlich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, hat 2001 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nachdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Gesellschaft „einen Sinn für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“  bewahren sollte. Denn der liberale Staat müsse „in Anbetracht der religiösen Herkunft seiner moralischen Grundlagen“  damit rechnen, dass eine säkulare Ethik das religiöse Artikulationsniveau nicht einhole.

Sollte es also eine zunehmende Religionsvergessenheit geben, wäre es umso dringlicher, dass der Staat die Religionsgemeinschaften fördert, damit sie in unserer Gesellschaft den – wie es Jeanne Hersch formuliert hat – „Sinn für den Sinn“  wachhalten. Denn da der Staat selber keinen Sinn stiften kann und – wenn er freiheitlich bleiben will – auch nicht darf, braucht er sinnstiftende Gemeinschaften.
Im wohlverstandenen Interesse fördert der Staat die Gemeinschaften, die seine Bürgerinnen und Bürger zum Gebrauch und zur Ausfüllung ihrer Freiheit befähigen. Und ohne Zweifel sind die Kirchen und die Religionsgemeinschaften solche Gemeinschaften!

Entsprechend formulierte das Bundesverfassungsgericht schon vor zehn Jahren: „Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist indes nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen.“

Unser Staat ermöglicht nicht nur die persönliche Religionsausübung, sondern er fördert auch die gesellschaftliche Präsenz der Religionsgemeinschaften. Unsere Verfassung sieht damit nicht nur die Freiheit von Religion, sondern auch die Freiheit für Religion vor. Aus diesem Grund setze ich mich für eine im zweifachen Sinne „aktive“ Religionsfreiheit ein: eine Religionsfreiheit, die vom Staat aktiv gefördert wird und die deshalb von den Gläubigen in den Religionsgemeinschaften zum Wohle der Gesellschaft aktiv mit Leben gefüllt wird. Diese besondere staatliche Haltung gegenüber dem Religiösen bezeichne ich als „kooperative“ oder als „ausbalancierte Trennung“ von Staat und Religion.

Eine solche ausbalancierte Trennung ist meines Erachtens eine große Chance für den Staat und ein Gewinn für die Gesellschaft!

Chancen einer ausbalancierten Trennung

Wolfgang Thierse hat einmal in einem Interview eine feinsinnige Unterscheidung gebraucht: „Die Religion handelt vom Heil, während es in der Politik um das irdische Wohl möglichst aller Menschen geht.“  Die ausbalancierte Trennung befreit also die Politik von falschem Erwartungsdruck und schützt den Staat vor Allmachtsphantasien, weil der Staat die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger nur gewährleistet und nicht schon ausfüllt.

Darüber hinaus verhindert der Verzicht auf eine strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, dass der Gesellschaft durch das Abdrängen von Religion ins Private, aber natürlich auch in die Hinterhöfe und an den Rand der Gesellschaft, eine grundsätzliche Dimension von Kultur verloren geht. Denn die Religionsgemeinschaften repräsentieren einen kulturellen Mehrwert, den nur die Religionen schaffen können. Religiöses Denken und Sprechen überschreiten eine säkulare Fixierung auf das Hier und Jetzt; sie verhindern Selbstbezüglichkeit und Selbstgenügsamkeit und öffnen uns für eine die Immanenz überschreitende Dimension. Auch aus diesem Grund sollte der Staat öffentliche Religionspflege betreiben.

Und schließlich bringt die ausbalancierte Trennung die Religionsgemeinschaften dazu, sich in einem säkularen Kontext bewegen zu müssen. Die Religionsgemeinschaften können ihre kulturelle Prägekraft nicht einfach nur behaupten, sondern müssen ihre Glaubensinhalte und Glaubenslehren vernünftig und plausibel gegenüber der Gesellschaft und in sie hinein kommunizieren und sich den Fragen der Menschen aussetzen. So bleiben die Kirchen und die Religionsgemeinschaften herausgefordert, anschlussfähig an die Gesellschaft und zeitgenössisch zu sein. Und die Gesellschaft kann sich umgekehrt ihrer gesellschaftlichen Integration versichern und sie kritisch begleiten, wenn sie in der Mitte der Gesellschaft und im öffentlichen Raum angesiedelt sind.

Weiterentwicklung der Staat-Religionen-Beziehung

Der Vorteil der balancierten Trennung ist gerade, dass nicht zwei Systeme einfach nebeneinander her existieren, sondern dass sie miteinander in Beziehung treten können. Aus diesem Grund kann angesichts einer sich wandelnden Gesellschaft und einer sich verändernden religiösen Landschaft nicht die völlige Trennung das Ziel sein, sondern allenfalls eine neue Ausbalancierung.

Tatsächlich wird man über manches im Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften diskutieren und wohl auch manche Reform anstreben müssen. Ich möchte dies kurz an einigen Herausforderungen deutlich machen.

Islamischer Religionsunterricht

In unserem Land leben zahlreiche muslimische Bürgerinnen und Bürger. Und viele von ihnen möchten nicht nur ihren Glauben praktizieren, sondern ihren Kindern eine religiöse Bildung und ein Hineinwachsen in ihre Glaubenstradition ermöglichen können. Zu Recht wünschen deshalb die islamischen Verbände einen islamischen Religionsunterricht in der Regelschule.

Doch ist die derzeitige Ausgestaltung noch unbefriedigend. Es ist deshalb wichtig, dass neben den christlichen Kirchen auch die anderen Religionsgemeinschaften in die Struktur unseres Religionsverfassungsrechts hineinwachsen und die erforderlichen rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen, um ihren eigenen Religionsunterricht an Schulen erteilen zu können.

Das heißt aber, es geht nicht ohne eine gewisse Institutionalisierung. Denn unser Religionsverfassungsrecht  ist aufgrund seiner historischen Entstehung zwar gut auch auf andere und nicht-christliche Religionsgemeinschaften vorbereitet. Worauf es aber nicht vorbereitet ist, sind Religionsgemeinschaften, die nicht institutionalisiert sind und bei denen ein verbindlicher Ansprechpartner fehlt.

Unsere Landesregierung ermutigt und unterstützt die Religionsgemeinschaften auf diesem Weg. Wir suchen deshalb gemeinsam mit ihnen nach Möglichkeiten, wie  ihr berechtigtes Anliegen eines islamischen Religionsunterrichts schon heute realisiert werden kann. Denn wir haben ein Interesse daran, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften an den Schulen präsent sind. Diese Präsenz fördert eine gesellschaftliche Integration der Religionsgemeinschaften. Und sie regt zum Dialog mit Andersdenkenden bzw. Andersgläubigen und zu Respekt und Toleranz gegenüber anderen Vorstellungen und Werten an. Aber das Entscheidende ist: Sie haben einfach ein Recht darauf, gleichbehandelt zu werden und den gleichen Zugang zu haben.

Wir sind in Baden-Württemberg bisher leider nicht über eine Modellphase hinausgekommen. Und es wird auf absehbare Zeit wohl auch nicht möglich sein, in einem ganz strikten grundgesetzlichen Sinne einen bekenntnisorientierten Religionsunterricht zu organisieren. Bei den Aleviten ist es zwar heute schon möglich. Aber die sunnitischen Religionsverbände sind noch sehr zersplittert. Da ist jetzt aber ein Prozess im Gange, das aufzuheben, und wir suchen in dieser Übergangsphase nach geeigneten Modellen.

Feiertagsschutz

Die anhaltenden Diskussionen und auch Streitigkeiten um den Schutz der Sonn- und Feiertage, v.a. der sog. „Stillen Feiertage“, zeigen, dass der gesellschaftliche Konsens hierüber neu errungen werden muss. Nicht nur die persönlichen Vorstellungen über die Gestaltung der Sonn- und Feiertage sind sehr heterogen. Mit der zunehmenden religiösen Pluralisierung kommen auch ganz neue, nicht-christliche Feiertage in den Blick.

Trotz aller Differenzierung hoffe ich jedoch, dass es einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass wir als Gesellschaft insgesamt solche Tage der Unterbrechung vom Werktag brauchen. In diesem Zusammenhang hatte es eine schöne Losung der evangelischen Kirchen gegeben: Ohne Sonntage haben wir nur Werktage.

Es ist für unsere Gesellschaft als ganze wichtig, dass wir an Sonn- und besonderen Feiertagen nicht nur zur Arbeitsruhe, sondern – wie es das Grundgesetz weitergehend formuliert – auch zur „seelischen Erhebung“ gemeinsam innezuhalten. Dies ist übrigens die einzige wirkliche religiöse Formulierung im Verfassungstext. Aber sie steht nun mal da – und ich finde das gut.

Hierfür braucht es dann aber auch einen geschützten Rahmen. Deshalb halte ich persönlich am Schutz solcher Feiertage fest, sehe aber, dass wir im Sinne einer ausbalancierten Trennung eine neue gesellschaftliche Verständigung brauchen, für welche religiösen Feiertage ein solcher besonderer Schutz gelten soll und welche Schutzbestimmungen es dafür braucht. So sind es doch einige Feiertage – und nicht nur der Karfreitag, an denen zum Beispiel ein Tanzverbot herrscht. Darüber müssen wir uns verständigen.

Kirchliches Arbeitsrecht

Immer wieder stoßen die Kirchen auf Unverständnis in der Öffentlichkeit, wenn sie z.B. Kündigungen wegen der privaten Lebenssituation von Mitarbeitern aussprechen oder Menschen anderer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit nicht anstellen. Sie berufen sich dann auf ihr grundgesetzliches Recht, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen und zu verwalten. Dies machen im Übrigen auch andere: Auch die grüne Fraktion würde jemanden entlassen, wenn sie feststellen sollte, dass er bei einer anderen Partei ist. Denn das unterliegt dem Tendenzschutz, den die Fraktionen und Parteien haben.

Doch kann das kirchliche Selbstverwaltungsrecht zum Problem werden, wo die Kirchen als Träger sozialer Einrichtungen eine gewisse Monopolstellung einnehmen. Denn dann kann die persönliche Lebensführung oder das persönliche Bekenntnis schnell zu beruflichen Benachteiligungen führen. Der Öffentlichkeit – und auch manchen Christinnen und Christen – ist es dann nur schwer vermittelbar, warum in kirchlichen Einrichtungen bestimmte Rechte und manche gesellschaftliche Errungenschaften nicht gelten sollten.

Auch hier gilt: Als Staat können und dürfen wir nicht bewerten, ob die persönliche Situation eines Mitarbeiters dem kirchlichen Verkündigungsauftrag entgegensteht oder das kirchliche Zeugnis trübt. Aber die Öffentlichkeit und die Kirchenmitglieder dürfen eine solche kirchliche Praxis sehr wohl hinterfragen, diskutieren und kritisieren. Und die Kirchen müssen diese Debatte aushalten und sich ihr stellen.

Dennoch muss der Staat nicht bloß zuschauen: Im Rahmen einer ausbalancierten Trennung kann und muss er dafür Sorge tragen, dass die mit dem Vorrang freier Träger intendierte Träger- und Angebotsvielfalt und damit auch eine Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger (als Kunden wie als Mitarbeiter) gesichert bleiben. Der Staat muss darauf achten, dass sich die religiöse und weltanschauliche Pluralität unserer Gesellschaft auch in der Träger- und Angebotsstruktur der Freien Wohlfahrt abbildet – und gegebenenfalls nachjustieren. Ich würde mir deshalb z.B. sehr wünschen, dass es bald zur Gründung muslimischer Sozialverbände kommt.

Teilhabe aller Religionsgemeinschaften

Ich komme zum Schluss. Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass die Präsenz von Religionsgemeinschaften im öffentlichen, gesellschaftlichen Raum für beide – Staat und Religionsgemeinschaften – Vorteile bringt. Ich kann auch nicht erkennen, wo, wem und wie eine radikale laizistische Trennung von Staat und Religion einen Zugewinn an Freiheit verschaffen würde gegenüber einer kooperativen Trennung. Worin soll in einer laizistischen Trennung der Zuwachs an Freiheit bestehen?

Seit einigen Jahren begehen wir in Stuttgart auf dem Schlossplatz an Chanukka das Lichteranzünden. Es hat nach dem unermesslichen Leid und der grauenvollen Vernichtung durch die Nazidiktatur Jahrzehnte gedauert, bis angestammtes jüdisches Leben in unsere Gesellschaft zurückgefunden hat und wieder heimisch werden konnte. Nun können wir endlich wieder jüdische Frömmigkeit und jüdische Kultur im öffentlichen Raum wahrnehmen. Und es war für mich persönlich sehr bewegend, dass ich diesen Leuchter als Repräsentant von Baden-Württemberg anzünden durfte. Und ich bin sehr dankbar dafür. Wer wollte ernstlich diese religiösen Symbole und Riten wieder in die Synagogen zurückdrängen? Wer könnte darin einen Zugewinn an Freiheit erkennen?

Ein anderes Beispiel: Am Tag der Deutschen Einheit hatten wir einen ökumenischen Gottesdienst, in dem übrigens alle fünf Verfassungsorgane präsent waren. Wer hätte etwas davon gehabt, wenn dieser Gottesdienst nicht stattgefunden hätte? Diejenigen, die nicht glauben,  mussten nicht hingehen und mussten ihn auch nicht im Fernsehen anschauen. Aber für die, die darauf Wert legten, war es ein Gewinn. Worin bestünde bei einer radikalen Trennung von Staat und Kirchen also der Freiheitsgewinn, wenn wir so etwas verhindern? Wer hätte da wirklich etwas davon?

Aus diesem Grund halte ich die Präsenz des Religiösen und der Religionsgemeinschaften nicht nur für tolerabel, sondern im Gegenteil für wünschenswert, ja geradezu unerlässlich.

Das bedeutet zugleich – natürlich und notwendigerweise! – religiöse und weltanschauliche Pluralität und die gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe verschiedenster Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Als Staat solche religiöse Pluralität zu gewährleisten, ist zwar anstrengender und schwieriger, als alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen, aber es ist sicherlich freiheitlicher.

Die grundgesetzlichen Regelungen für die Religionsgemeinschaften waren schon bei ihrer Niederschrift nicht exklusiv für die großen christlichen Kirchen gedacht. Sie sind vielmehr inklusiv angelegt und bewusst offen gehalten, um religiöse Pluralität zu ermöglichen. Umso mehr müssen wir heute mit der im Grundgesetz angelegten Pluralität des Religionsverfassungsrechtes auch ernst machen!

Eine staatliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften kann jedoch nicht heißen, das möchte ich auch betonen, das mit den großen christlichen Kirchen erreichte religionspolitische Niveau abzusenken. Deswegen bin ich sehr froh, dass wir ein Zentrum für islamische Theologie an der Universität Tübingen eingerichtet haben, damit später die Geistlichen und Religionslehrer des Islam auf dem Niveau, das üblich ist, auch ausgebildet werden. Die Pluralisierung der religiösen Landschaft darf nicht zu einem Rückbau der religionspolitischen Errungenschaften führen.

Im Gegenteil: Wir müssen das Erreichte auch für andere und kleinere Religionsgemeinschaften zugänglich machen! Aus dem gewachsenen und bewährten Staat-Kirche-Verhältnis muss ein modernes und offenes Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnis werden. Dafür braucht es die gemeinsamen Anstrengungen der Kirchen, der Religionsgemeinschaften und der Politik!

Und einen offenen gesellschaftlichen Dialog – einen Dialog, wie wir ihn heute hier miteinander führen.

Ich danke Ihnen!"


Vortrag von Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Thema „Getrennt, aber nicht gleichgültig. Weiterentwicklung einer ausbalancierten Trennung von Staat und Religion“ am 18.10.2013 in Stuttgart-Hohenheim (PDF)

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