Rede

Europaminister Peter Friedrich im Bundesrat zur Freizügigkeit von EU-Bürgern

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In einer Zeit, in der schon in den Debatten über die elementaren Grundlagen europäischer Kooperation die Tonlage verschärft ist, bin ich froh, dass die Kommission in ihrer Mitteilung deutlich macht, dass Freizügigkeit eine zentrale Errungenschaft der europäischen Integration war, ist und auch in Zukunft bleiben soll. Sie gehört zu den unabdingbaren Grundlagen des europäischen Binnenmarktes.

Gerade in einem Bundesland wie dem meinem, das im Herzen Europas liegt und zahlreiche Außengrenzen hat, profitieren alle – die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt, die Bürgerinnen und Bürger – von der EU-Freizügigkeit erheblich. Unser wirtschaftlicher Erfolg in den vergangenen Jahrzehnten wäre ohne ein Mehr an Mobilität zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der EU nicht denkbar. Das gilt auch für die Zukunft.

Gleichermaßen wird die EU-Freizügigkeit in den nächsten Jahren zu einem Schlüsselthema der Debatte in Deutschland über Wege und Möglichkeiten der Sicherung unseres Wohlstandes; denn demografische Entwicklung – der Altersaufbau –, Fachkräftebedarf sind die großen Herausforderungen für das Wirtschaftswachstum in der Zukunft.

Auch bei dem aktuellen Problem der Europäischen Union Nummer 1 – Jugendarbeitslosigkeit – kommen wir nur mit einem funktionierenden europäischen Arbeitsmarkt voran, indem wir die Möglichkeiten der Freizügigkeit gestalten, nutzen, ausschöpfen. Kontingentierungen und Mobilitätsbeschränkungen sind dabei reines Gift, übrigens, Kollegin Haderthauer, auch für die solidarischen Sozialsysteme. Ich finde, Sie sollten dazusagen, dass die überwiegende Anzahl der Zuwanderinnen und Zuwanderer einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgeht. Sie leisten einen Beitrag sowohl zu unserem Wirtschaftswachstum als auch zur Stabilität unserer sozialen Sicherungssysteme.

Es freut mich, dass Sie sich in der Tonlage etwas von den Wildbad Kreuther Festspielen zur Willkommenskultur unterschieden haben. Gleichwohl muss ich feststellen, dass wir bei dem, was die Ausschüsse des Bundesrates vorgelegt haben, nach wie vor unterschiedlicher Meinung sind. Ich finde es äußerst positiv, dass die EU-Kommission in ihrer Mitteilung auf die Problemstellungen in den Kommunen vor Ort sehr dezidiert eingeht. Am 11. Februar hat eine Bürgermeisterkonferenz der EU stattgefunden. Und es geht natürlich um die Verwendung der Strukturfondsmittel – Europäischer Sozialfonds – bei uns, aber auch in den Herkunftsländern.

Vor dem Hintergrund der Entscheidung in der Schweiz am vergangenen Sonntag will ich klar sagen: Die Freiheiten in Europa, die wir alle genießen und nutzen wollen, haben immer auch ihren Preis. Wenn es darum geht, dass die Politik eine ehrliche Debatte mit den Bürgern führt, müssen wir natürlich sagen: Freizügigkeit, zunehmende Globalisierung und Mobilität haben ihre Folgen – gute wie schlechte. Es ist aber völlig falsch, leichtfertig mit Stimmungen umzugehen, sie sogar anzuheizen, die darauf abstellen, dass diejenigen, die zu uns kommen, per se durch Betrug an unseren sozialen Sicherungssystemen zu Einkommen gelangen wollen. Das ist schlicht und ergreifend nicht die Wahrheit. Die Menschen kommen zu uns, um Geld zu verdienen, indem sie durch Arbeit ihre Leistung einbringen. Deswegen ist es völlig verkehrt, Ressentiments zu bedienen, wie es geschieht.

Ich wohne sehr nahe an der Schweizer Grenze, in Konstanz, und habe selbst eine Zeit lang in der Schweiz gewohnt. In der Debatte dort geht es im Kern nicht um Zuwanderung. Vielmehr finden dort wie bei uns Veränderungen in der Gesellschaft statt – erhöhte Mobilität, Siedlungsdruck, Zuwanderung, aber auch Binnenwanderung, Digitalisierung, zunehmende Globalisierung der Wirtschaftsweisen –, für die bei der Abstimmung allein die Zuwanderer verantwortlich gemacht wurden. Darunter sind übrigens sehr viele Deutsche. Rund 56 000 Menschen aus Baden-Württemberg sind Grenzgänger in die Schweiz. Insgesamt leben dort 300 000 Deutsche. Es gab Debatten über überfüllte Nahverkehrszüge, wofür die Zuwanderer verantwortlich gemacht wurden. Ich halte es für falsch, an diese Debatte anzuknüpfen und so zu tun, als könnte eine Steuerung der Zuwanderung verhindern, dass wir in einer offenen und vielfältiger werdenden Gesellschaft unsere Hausaufgaben machen. Wir müssen uns um unsere Hausaufgaben kümmern und dürfen sie nicht einseitig der EU zuweisen.

Es geht um die Fragen, wie wir die Willkommenskultur und Integrationsmaßnahmen gestalten, wie wir zum Beispiel Gewerbefreiheit kontrollieren. Es ist notwendig, dass unsere Gewerbeaufsichtsämter prüfen, ob die Menschen ordentliche Gewerbe betreiben. Dazu gehört aber auch, dass wir in Deutschland Regeln schaffen, die unseren Arbeitsmarkt europafähig machen. Insbesondere das Thema "Mindestlohn" wollen wir in der Bundesregierung in diesem Jahr gemeinsam angehen. Die Menschen dürfen nicht angelockt und Opfer von Ausbeutung bei uns werden. Wir haben den Arbeitsmarkt und unsere Sozialsysteme so integrativ zu gestalten, dass kein Ausbeutungswettbewerb stattfindet, sondern für diese Menschen sichere und gute Arbeit möglich ist.

Ich bedauere die Entscheidung in der Schweiz außerordentlich. Ich halte sie für falsch. Es war ein Fehler in der Debatte, dass allein auf die wirtschaftlichen Konsequenzen hingewiesen wurde. Man muss auch darüber reden, welche flankierenden Maßnahmen in einer sich öffnenden Gesellschaft notwendig sind. Das gilt für die Schweiz genauso wie für uns.

Um auch das klar zu sagen: Man kann nicht allein beim Thema "Freizügigkeit" Veränderungen herbeiführen, sondern muss über alle Pakete des bilateralen Weges sprechen. Verhandlungen mit der EU einseitig über den Themenbereich "Arbeitsmarkt" kann es nicht geben. Wenn die Schweiz die bilateralen Verträge neu verhandeln will, sind alle Fragen aufzurufen. Dazu gehören neben der Freizügigkeit etwa der Marktzugang, die Durchlässigkeit der Märkte, der Luftraum. Der Schweizer Bundesrat wäre gut beraten, über die Initiative im Dialog mit der EU zu diskutieren und zu prüfen, wie man die zukünftigen Beziehungen so gestalten kann, dass die Schweiz ein offenes Land bleibt und die EU ihre Offenheit gegenüber der Schweiz bewahrt. Rosinenpickerei darf es nicht geben. Man kann nicht einseitig die Vorteile nutzen wollen, nicht aber die Pflichten, die damit einhergehen, dass man durch die bilateralen Verträge faktisch Teil der EU ist, erfüllen.

Von dem Schweizer Entscheid geht die Signalwirkung aus, dass wir über die bilateralen Verträge insgesamt verhandeln müssen. Ich glaube aber nicht, dass wir das Signal so verstehen sollten, wieder Hürden aufzubauen, nachdem die Europäische Union geholfen hat, viele Grenzen durchlässig zu machen, wovon gerade wir Nachbarn der Schweiz in besonderer Weise profitieren.

In den wirtschaftsstarken Regionen der Bundesrepublik und ganz Europas wird es ohne Freizügigkeit auf Dauer nicht gehen. Europa gelingt nur mit vernünftig gestalteter Freizügigkeit, nicht durch das Errichten neuer Grenzen.

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