Interview

„Große Kraft, große Verantwortung“

Maultasche in Mitte (2) Als Baden-Württembergs Botschafter in seiner Wahlheimat Berlin verfügt Volker Ratzmann über beträchtlichen Einfluss. In unserer schwäbischen Gesprächsreihe redet der Grüne über Winfried Kretschmann, die Bundeshauptstadt und darüber, was er von Spider-Man gelernt hat.

Treffpunkt Berlin-Mitte, auf eine Maultasche mit Volker Ratzmann. Der 58-Jährige ist baden-württembergischer Botschafter und Leiter der Landesvertretung in der Bundeshauptstadt. Er kennt den hektischen Politalltag dort aus eigener Anschauung, seinen Arbeitsplatz im Bundesrat empfindet er deswegen fast schon als eine Ruheoase.

Herr Ratzmann, die Bestellung beginnt gleich mit einer schwäbischen Glaubensfrage: Gschmälzt oder en dr Bria?
Geschmälzte! Kartoffelsalat dazu – perfekt.

Hängen Ihnen als Chef der Berliner Landesvertretung Baden-Württembergs Maultaschen nicht längst zum Hals raus? Die werden fast bei jeder Veranstaltung serviert.
Stimmt, Maultaschen sind unser Klassiker. Ich esse sie immer noch gern, auch weil unsere Küche ausgefallene Varianten draufhat. Aber ich muss ja nicht bei jeder unserer 600 Veranstaltungen im Jahr dabei sein und etwas essen. Sonst müsste ich alle zwei Monate neue Klamotten kaufen.

Schwäbisch ist Ihr Stammbaum nicht. Wann haben Sie denn zum ersten Mal Kontakt mit der Maultasche aufgenommen?
Schon Mitte der sechziger Jahre. Das hat damit zu tun, dass mein Vater nach dem Krieg nicht mehr heim in die Nähe von Stettin konnte und nach Baden-Württemberg weitergezogen ist. In Brenz an der Brenz hat er damals Zuflucht gefunden. Zwischendurch hat es meine Eltern dann nach Niedersachsen verschlagen, wo ich auch geboren und später wieder hingezogen bin – einen großen Teil meiner Kindheit habe ich aber im bayerischen Teil Schwabens verbracht. Ich lebte auf einem Gutshof, wo mein Vater Verwalter war. In Donauwörth ging ich zur Schule. Mit den Schwaben – auch den bayrischen – und ihrem Essen bin ich daher von Kindesbeinen an vertraut.

Jetzt sind Sie deren Botschafter in Berlin. Vielen wird nicht klar sein, was Sie genau tun. Erklären Sie es uns?
Einen typischen Tag gibt es nicht, aber grundsätzlich richtet sich alles an den Sitzungen des Bundesrates aus, über den Baden-Württemberg in die Gesetzgebung eingebunden ist. Zwei Wochen haben wir, um unsere Positionen im Land abzustimmen, eine Woche vorher geht es in die Kompromissfindung zwischen den Ländern. Ich bin daher viel in Stuttgart, nehme an Kabinettssitzungen teil, trage vor, was im Bundesrat anliegt und wie wir abstimmen. Mit meinem tollen Team muss ich immer schauen, wo und wie die Interessen des Südwestens von einem Gesetzesvorschlag berührt sind. Das ist der eine Teil. Und dann darf ich in Gremien oder bei festlichen Anlässen das Land vertreten.

Neuland ist Berlin ja keineswegs für Sie.
Ich bin 1981 zum Studieren nach Berlin gekommen – und hier hängen geblieben. 37 Jahre sind das schon, mein Gott!

Anfang der Achtziger nach Westberlin – hört sich nach klassisch linker Biografie an.
In dieser Zeit war Berlin ein politisches Reagenzglas, in dem viel experimentiert wurde. Es gab die Kitabewegung, die Hausbesetzerbewegung, weil die Wohnraumproblematik schon richtighochkochte. Die ersten Sanierungswellen begannen, gegen die sich Protest erhob – wobei man schon sagen muss, dass Berlin in den Achtzigern an einigen Stellen wirklich noch ziemlich finster aussah. Nach der Maueröffnung hat sich die Stadt dann völlig verwandelt. Berlin ist wirklich eine andere Stadt
geworden.

Erkennen Sie gar nichts mehr wieder?
Berlin ist mittlerweile zum Schaufenster des modernen, weltoffenen Deutschland geworden. Als ich vor einigen Wochen mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann in den USA war, wurde dort Berlin auch wieder in einem Atemzug mit London, Paris oder Tokio genannt. Glücklicherweise gibt es noch Biotope wie in Kreuzberg, die überdauert haben. Ich finde, die Durchmischung macht’s, das war in Berlin immer so.

Juckt es Sie nicht mehr, an der Stadtpolitik dieser Metropole mitzuwirken? Sie waren im Abgeordnetenhaus lange Fraktionschef der Grünen, die heute mitregieren.
Das ist ein abgeschlossenes Kapitel. Ich bin mit mir im Reinen, dass ich 2011 gegangen bin, keine Frage.

Nun arbeiten Sie für die Superrealos im Südwesten. Eine lange politische Reise, oder?
Als Anwalt kam ich aus der Bürgerrechtsecke, meine erste Kanzlei befand sich im Haus der Demokratie in der Friedrichstraße. Im Abgeordnetenhaus habe ich dann schnell erkannt, dass du nichts bewirkst mit ewiger Rechthaberei und moralischem Zeigefinger – und dass auch andere Mal recht haben. Umso schlimmer fand ich es, wenn wir als Opposition in einem solchen Fall trotzdem mit Nein stimmen mussten. Umgekehrt habe ich mich geärgert, wenn die Regierung einen Oppositionsantrag niedergestimmt hat, um ihn kurz darauf fast unverändert selbst zu beschließen. Solche Rituale schaden der Politik, das gilt für alle Parteien und Institutionen. Ich würde mich selbst als Pragmatiker bezeichnen.

Diese Einstellung hat Sie direkt zu Kretschmann geführt?
Ich kenne ihn aus der Zeit, als wir beide Fraktionschefs waren: er in Baden -Württemberg, ich in Berlin. Mir imponiert seine gradlinige Art, die Bereitschaft, den Finger in ideologische Wunden zu legen und den gesunden Menschenverstand auch mal über die Parteiräson zu stellen. Es gab mit ihm immer wieder Situationen, da dachte ich: Endlich traut sich mal einer, das auszusprechen.

Ideale Voraussetzungen, um sein Botschafter in Berlin zu werden. Wie kam es dazu?
Als er 2011 Ministerpräsident wurde, habe ich parallel die Berliner Grünen verlassen – und den Posten in der Landesvertretung angeboten bekommen. Damals war Peter Friedrich Bevollmächtigter, Ministerpräsident Kretschmann wollte, dass auch seine grünen Positionen im Bund wahrgenommen werden. Das war dann mein Job.

Daraus wurde die grüne Schaltzentrale.
Naja, erst kommt das Land! Aber wir haben zeitweise zwölf Landesregierungen koordiniert, aktuell sind es neun. Mit dem sogenannten G-Kamin haben wir ein Format erfunden, um das uns vermutlich andere Parteien beneiden. Hier kommen unsere Vertreter aus allen Entscheidungsbereichen zusammen – Europaparlament, Bundestag, Landesregierungen.

Über den Bundesrat bestimmen die Grünen im Bund mit. Richtig kontrovers wird es aber selten, wenn man mal vom Thema sichere Herkunftsstaaten absieht. Woran liegt das?
Im Bundesrat herrscht der Kammerton vor. Das mag daran liegen, dass er in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorkommt. Was wiederum dazu führt, dass dort eine angenehme, sachorientierte Arbeitsatmosphäre herrscht, anders als im Bundestag. Wir Grünen gehen konstruktiv damit um, wenn die Regierung unsere Zustimmung im Bundesrat braucht. Wir machen den Koalitionsfraktionen oft früh klar, dass sie einen langwierigen Vermittlungsausschuss vermeiden, wenn sie von Anfang an unsere Anliegen in ein Gesetz mit einbauen. Der Bundesrat ist heute nicht mehr das Kampfinstrument der Opposition. Das ist auch gut so, weil über dem Parteiinteresse das des Landes steht.

Mit „Land“ meinen Sie jetzt Baden-Württemberg oder Deutschland?
Beides. Ministerpräsident Kretschmann betont mir gegenüber immer wieder, dass ich Interessenvertreter eines Landes bin, aber auch eine Gesamtverantwortung für die Bundesrepublik habe. Gerade wir im starken Südwesten müssen sie wahrnehmen. „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung“, hat meines Wissens nach schon Spider-Man gesagt.

Es ist also ein Unterschied, ob man Politik für ein sogenanntes Geberland wie Baden-Württemberg macht, das andere Länder über den Finanzausgleich unterstützt, oder für ein Nehmerland wie Berlin?
Ja, was denn sonst? Ich habe in Berlin Thilo Sarrazins Sparpolitik mitbekommen und sehe die Auswirkungen in der Stadt, besonders in der Verwaltung. Das ist mit der Leistungsfähigkeit Baden-Württembergs, seiner Regierung und seiner Behörden nicht mal im Ansatz vergleichbar. Nun wächst das Geld im Südwesten auch nicht auf Bäumen, aber die politischen Gestaltungsmöglichkeiten sind ganz andere. Eines kommt hinzu: Wir müssen Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen haben, weil im Südwesten ein großer Teil der Wertschöpfung der gesamten Republik stattfindet. Dasselbe gilt für den Forschungs- und Entwicklungsbereich, da sind wir eine der wenigen Regionen in Deutschland und Europa, die sich im globalen Wettbewerb messen lassen können. Da muss Baden-Württembergs Stimme dementsprechend Gewicht haben in Berlin, und das hat sie auch.

Wirklich? Der Ministerpräsident warnt vor der Gefahr, dass die Bundesländer zu bloßen „Verwaltungsprovinzen“ verkommen, weil der Bund im Gegenzug für finanzielles Engagement immer mehr Mitsprache verlangt.
Die Grundgesetzänderung für den Digitalpakt Schule werden wir nicht mitmachen. Auf Dauer wird sich der Föderalismus durchsetzen, weil die Idee der Subsidiarität attraktiver ist als je zuvor: Möglichst nah an den Menschen zu entscheiden schützt im Zeitalter der Globalisierung vor einem Verlust der Identität – und auch vor Populismus. Außerdem muss man sich das einmal vorstellen: Eine falsche Entscheidung auf nationaler Ebene in der Bildungspolitik, und der ganze Karren fährt jahrelang in die falsche Richtung.

Wenn man Sie so reden hört: Bereuen Sie es manchmal, nicht in vorderster Reihe zu stehen? Sie waren schließlich einmal als Bundesvorsitzender der Grünen im Gespräch.
Sicher denke ich da manchmal dran, bereue es aber keine Sekunde. Ich habe mich damals aus familiären Gründen gegen eine Kandidatur entschieden. Meine Frau Kerstin Andreae war schon damals im Bundestag, und wenn ich auch noch in die Bundespolitik gegangen wäre, hätten wir keine Zeit mehr für unsere Familie gehabt. Wenn ich heute meine neunjährige Tochter anschaue, weiß ich, dass es die beste Entscheidung meines Lebens war.

Das Gespräch führte Christopher Ziedler.

Quelle:

Das Interview erschien am 16. November 2018 in der Stuttgarter Zeitung.
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