Bürgerbeteiligung

Das Land summt und brummt vor Beteiligung

Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung

Ob bei der Planung von Großprojekten, Hochwasserschutz oder Energietrassen – nirgendwo sonst in Deutschland werden die Bürgerinnen und Bürger vom Land und den Kommunen so intensiv beteiligt. Und auch die Hürden für die direkte Demokratie werden nun gesenkt. Damit ist Baden-Württemberg auf dem Weg zu einer lebendigeren Demokratie ein gutes Stück vorangekommen, schreibt Gisela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, in ihrem Beitrag. Und sie erklärt, dass es dabei nicht nur um Volksentscheide, sondern um viel mehr geht.

Der Verein „Mehr Demokratie“ hat kürzlich einen Bericht vorgelegt: Das Land sei mit nur noch sechs Bürgerentscheiden im Jahr 2014 auf einem Tiefpunkt der Demokratie in den letzten zwei Jahrzehnten angelangt. Diese niedrige Zahl sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass die versprochenen Reformen noch immer nicht umgesetzt seien.

Es stimmt leider, dass die Gesetze zur Veränderung der Gemeindeordnung und der Verfassung in Baden-Württemberg im Verzug sind, weil im Parlament von vielen Seiten Vorbehalte gegenüber niedrigeren Hürden bei Bürgerentscheiden und Volksentscheiden bestanden. Die Gesetze werden aber sicher in diesem Jahr verabschiedet und bringen trotz einiger Abstriche substantielle Verbesserungen für die direkte Demokratie in Baden-Württemberg. Das sieht auch „Mehr Demokratie“ so.

Allerdings beschreibt die Vermutung, die geringe Zahl von Bürgerentscheiden sei ein Resultat der noch nicht verabschiedeten Reformen ein Kernproblem der Kommunikation rund um die Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg. Natürlich ist es wichtig, die Quoren bei Bürger- und Volksentscheiden zu senken. Aber die Tatsache, dass es nur wenige Bürgerentscheide gibt, ist per se kein Hinweis auf einen Tiefpunkt der Demokratie.

Ein gutes Stück des Weges haben wir bereits geschafft

Ganz im Gegenteil. Baden-Württemberg ist das Land, das kommunal und auf Landesebene am konsequentesten und intensivsten von allen Bundesländern eine Politik der Beteiligung der Bürgerschaft umsetzt. Beteiligung an Dialogprozessen, bei der Planung von Großprojekten, Bundesstraßen, Hochwasserschutz, Energietrassen und bei der Entwicklung von Konzepten aller Art der Landesregierung und der Kommunen. Das Land summt und brummt vor Beteiligung. Es ist gerade diese Form der dialogischen Partizipation, der deliberativen Demokratie nach Habermas, mit der ich als Staatsrätin beauftragt wurde. Ich sollte im Rahmen bestehender Gesetze einen Leitfaden für Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben entwickeln – dieser Planungsleitfaden liegt vor und wird im Land bei allen Großprojekten der Landesregierung angewandt. Ferner wurde ein innovatives Umweltverwaltungsgesetz verabschiedet, das die Bürgerbeteiligung bei vielen Vorhaben des Landes und der Wirtschaft verbindlich regelt. Die Wirtschaft ist durchaus Partner bei dieser Entwicklung. Vom VDI wurden eigene umfassende Richtlinien zur Bürgerbeteiligung entwickelt. Und die Bauwirtschaft hat sich 2014 in ihrer „Stuttgarter Erklärung“, die dem Ministerpräsidenten überreicht wurde, zu aktiver Bürgerbeteiligung verpflichtet.

Beteiligung in den Kommunen ist der Normalfall

Die Dialogprozesse auf kommunaler Ebene haben sich ebenfalls drastisch vermehrt und verbessert. Verwaltungen verstehen die Methoden nun besser. Sie haben gelernt, die Vorschläge der Bürgerschaft tatsächlich zu prüfen und ernst zu nehmen, nicht einfach in die Schublade zu legen. 239 kommunale Projekte wurden seit 2012 als Bewerbungen bei den beiden Leuchtturmwettbewerben des „Staatsanzeigers“ eingereicht. Sie wurden ausführlich dargestellt und sind dadurch in allen Amtsstuben bekannt.

Der Dialog, früh genug und systematisch geführt, kann und soll durchaus die Konfrontation im Bürgerentscheid überflüssig machen. Eben weil die Beteiligung der Menschen in Dialogverfahren immer besser gelingt, werden Bürgerentscheide wohl seltener. Sie werden wahrscheinlich nicht drastisch zunehmen, wenn die neuen Gesetze verabschiedet sind. Bürgerentscheide bilden immer die Ausnahme, selbst in Bayern, dem Flächenland mit den niedrigsten Quoren, findet statistisch betrachtet nur alle 16 Jahre pro Gemeinde einer statt. Das meiste wird weiter im Gemeinderat entschieden.

Beteiligung in Dialogverfahren wird jedes Jahr und fast überall praktiziert. Sie ist der demokratische Normalfall, der die repräsentative Demokratie öffnet und sinnvoll ergänzt. „Keine größere Planung ohne Beteiligung“ – Das ist die Maxime des Landes und einer wachsenden Zahl von Kommunen, die die Bürgerbeteiligung zunehmend in kommunalen Leitbildern fixieren, wie zum Beispiel in Heidelberg.

Konzept der Politik des Gehörtwerdens

Die Politik des Gehörtwerdens in ein Konzept zu gießen ist nicht möglich, ohne gleichzeitig eine Antwort auf die Frage zu haben, wohin und wie sich die Demokratie weiter entwickeln soll. Die Befunde der Forschungsprojekte sind hier eindeutig: Die Menschen sind mit der Demokratie bei uns im Kern zufrieden, sie wünschen sich aber punktuell mehr Möglichkeiten der direkten Demokratie. Sie wollen ebenso nachdrücklich auch in solche Planungen eingebunden werden, wo sie letztlich nicht entscheiden können.

Hier liegt nun der Dreh- und Angelpunkt. Für Planfeststellungsverfahren etwa gibt es nicht die Möglichkeit des Bürgerentscheids. In der politischen Auseinandersetzung hat es sich leider eingeschlichen, bewusst die Unterscheidung von direkter Demokratie und deliberativen Verfahren zu verwischen. So werden informelle lokale Befragungen als Abstimmungen hochgespielt, ohne die tatsächlichen Zuständigkeiten für die Entscheidung zu beachten. Nicht immer ist allen Beteiligten auch bewusst, dass Abstimmungen in vielen Fragen gegen die Verfassung verstoßen würden. Ihre Forderungen nach mehr direkter Demokratie laufen daher ins Leere.

Ein Beispiel: Ein Fabrikbesitzer hat ein verfassungsrechtlich geschütztes Anrecht auf die Erweiterung seiner Fabrik. Das können wir auch nicht über Bundesratsinitiativen aushebeln. Möglich ist es aber, die Abwägungsentscheidung der Behörde gerichtlich überprüfen zu lassen. Mit unserem Planungsleitfaden können außerdem die Bürgerinnen und Bürger deutlich besser Einfluss nehmen. Denn sie sind früher informiert. Die gezielte Einbindung von „Normalbürgern“ durch das Zufallsprinzip und nicht nur von Verbändevertretern dämpft aufgeheizte Situationen und fördert den Pluralismus. Die Menschen in ganz Deutschland wünschen genau diese Erweiterung der Demokratie in Richtung direkter Demokratie einerseits und Beteiligung bei der Entscheidungsfindung andererseits.

Was ist „richtige Demokratie“?

Bürgerbeteiligung ist eben nicht gleichbedeutend mit direkter Demokratie. Dieser wichtige Unterschied aber wird von populistischer Kritik stets verwischt. Es gibt viele Themen, wie den Bau überregionaler Stromtrassen, über deren grundsätzliches „Ob“ im Bundestag oder Landtag entschieden wird, nicht durch die Behörde vor Ort. Wer in solchen Fällen ein Projekt grundsätzlich ablehnt, muss seinen Grundsatzprotest an die Regierung oder die Parteien richten. Eine grundsätzliche Ablehnung etwa des Frackings oder der Kohlegewinnung wird von den Parteien im Parlament entschieden. Nur sie können auch einmal gefasste Beschlüsse wieder verändern. Wie es Bayern gerade bei den Stromtrassenführungen versucht, um seine eigenen Wutbürger zu besänftigen. Der örtliche Widerstand hat in diesen Fällen nur dann eine Chance auf Gehörtwerden, wenn er im zuständigen  Parlament eine Mehrheit findet.

Die richtige Balance finden

Das Land hat zahlreiche Verfahren durchgeführt, wo die Bürgerschaft ihre Stimmen einbringen konnte. So beim Verfahren zum Nationalpark, aber auch bei Fachgesetzen, wie der Landesbauordnung. Das Land bezieht die Bürgerinnen und Bürger ein bei der Debatte über Krankenhausversorgung, aber auch intensiv darüber, wo ein neues Gefängnis gebaut werden soll. Das Online-Beteiligungsportal der Landesregierung bietet eine weitere Plattform zur Teilhabe. Ist das Alles keine Intensivierung und Vertiefung der Demokratie? Herrscht „richtige“ Demokratie nur dann, wenn die Mehrheit sich in Abstimmungen durchsetzt, wie beim Volksentscheid zu Stuttgart 21? Wobei einige S21-Gegner ja genau diese Entscheidung ablehnen. Oder herrscht eine gute Demokratie nicht gerade dort, wo die Argumente von Individuen und kleinen Gruppen bei der Entscheidung systematisch berücksichtigt werden, wie das in deliberativen Beteiligungsverfahren der Fall ist? Gibt es ein Wutbürgerveto gegen jede Entscheidung? Sollten nicht auch Befürworter von Vorhaben, die oft leiser sind, mehr wahrgenommen werden? Ist es nicht der Mühe wert, gezielt die stillen Gruppen, also Jugendliche, Frauen und Migranten, aktiv in Diskussionen einzubinden, etwa in Familienzentren? Ist das Parlament im Unrecht, wenn es Entscheidungen trifft, die manche nicht zufriedenstellen?

Dies sind die Fragen, um die es wirklich geht, hier und in anderen Ländern. Wir arbeiten an einer Balance, intensiver als jedes andere Bundesland und so systematisch, dass die Bürgerbeteiligung sogar Teil der Fort- und Weiterbildung der Landesverwaltung ist.

Die Bevölkerung merkt das. Sie findet laut Umfragen, dass sich die Demokratie in Baden-Württemberg stetig verbessert. Sie hat ein feines Gespür für den neuen Stil, der sich überall bemerkbar macht. Der Ministerpräsident und die Regierung sind populär, weil die Menschen diese Erfahrung machen.

Bürgerbeteiligung ist kein ewiges Spiel von Ja und Nein

Demokratie lebt sowohl vom zivilen Streit als auch von der praktischen Kooperation und dem Vertrauen. Etliche S 21-Gegner haben wohl vor allem das Vertrauen verloren. Ich meine, zu Unrecht. Die Volksabstimmung war korrekt: Die Argumente lagen auf dem Tisch und wurden in einer Abstimmungsbroschüre dargestellt. Die Bevölkerung, auch und gerade diejenigen, die S 21 ablehnen, akzeptieren zu über 75 Prozent diesen Volkentscheid.

Eben weil es mir und uns darum geht, Demokratie nicht nur als ewiges Spiel von Ja und Nein, von Mehrheit und Minderheit, zu begreifen, fördern wir das Konzept der deliberativen Demokratie. Hier liegt der wahre Dissens mit vielen unseren Kritikern – und hier liegt der Denkfehler derer, die der Politik des Gehörtwerdens ein Scheitern vorwerfen.

Protest, Struppigkeit, ja Zorn – alles das gehört zur lebhaften Demokratie und ihrer Weiterentwicklung. Allerdings kann Protest nur nachhaltig sein, wenn er sich langfristig in Gesetzen und Verfahren niederschlägt. Unser Auftrag ist nicht die unmittelbare Vertretung von Protestbewegungen, sondern die Schaffung von Rahmenbedingungen und Verfahren, die dem Protest und seinen Argumenten ebenso verlässlich Gehör verschaffen, wie den Argumenten anderer Akteure. Eine starke Zivilgesellschaft kann diesen Geist der neuen Verfahren am Leben erhalten. Um die Zivilgesellschaft zu stärken, fördern wir massiv das zivilgesellschaftliche Engagement, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. So hoffen wir, eine offene, tolerante Demokratie auch für schwere Zeiten zu erhalten. Mit diesem Auftrag sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Genau so hat es der Ministerpräsident zu Beginn seiner Amtszeit versprochen.

Interaktives Zwischenbilanz: Bürgernahes Baden-Württemberg

Beteiligungsportal der Landesregierung

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