Rede

Hauptstadt-Rede von Ministerpräsident Winfried Kretschmann

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einer Hauptstadt-Rede am 08.11.2013 in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin (Quelle: dpa)

Auf Einladung der Stiftung Zukunft Berlin hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Reihe "Berlin und wir - Was wir von der Hauptstadt erwarten" eine Hauptstadt-Rede in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin gehalten.

Die Rede im Wortlaut:

„Erst mal möchte ich natürlich für die Einladung danken - stellvertretend für die Stiftung bei Ihnen, Herr Hassemer - ganz herzlichen Dank. Durch Ihre Arbeit eröffnen Sie Räume, um die Rolle und Zukunft Berlins zu erörtern und den Austausch zwischen der Hauptstadt und den Ländern zu stärken. Das ist nicht nur verdienstvoll, sondern auch notwendig. Wir Länder haben als neben dem Bund gleichberechtigte Institutionen unseres Verfassungsgefüges auch Verantwortung für das Ganze und damit auch für die Hauptstadt. Damit meine ich jetzt aber nicht die Finanzen, um das gleich klarzustellen.

Ich freue mich, dass ich heute als erster grüner Ministerpräsident in der traditionsreichen Reihe „Hauptstadt-Reden“ zu Ihnen sprechen darf – sozusagen als Solitär in großkoalitionären Zeiten. Es wird und wurde ja viel über das mit einer Großen Koalition verbundene Demokratiedefizit gesprochen – aber ich sage Ihnen, das betrifft nicht nur den Bundestag. Wir müssen auch aufpassen, dass unsere föderalen Strukturen, die ja auch der Machtbalance dienen, im großkoalitionären Rausch nicht unter die Räder kommen.

Vor zweieinhalb Jahren haben die Bürgerinnen und Bürger mir über das Parlament die Aufgabe übertragen, Baden-Württemberg zu regieren. Daher will ich zu Ihnen heute über die Zukunft der Demokratie sprechen, über meine Sicht auf die föderale Ordnung und ihren Erneuerungsbedarf. Ein besonderes Augenmerk möchte ich dabei auf die Versuche legen, die wir jetzt mit mehr Bürgerbeteiligung wagen in unserem Land. Aber meine Überlegungen sind nicht als abschließende Wahrheiten zu verstehen, sondern als Anregung für Sie, um darüber nachzudenken, als Erfahrungsbeispiele, damit Sie in Ihrem eigenen Urteil sicherer werden.

Schwaben und Berliner

Ich bin über 30 Jahre in der baden-württembergischen Landespolitik zu Hause. Und jetzt als Mitglied des Bundesrates und besonders auch durch meine Bundesratspräsidentschaft regelmäßig Gast in Berlin. Und ich muss sagen: Auch als überzeugter und bekennender Landespolitiker fühle ich mich sehr wohl hier in dieser Weltmetropole. Was mich aber etwas irritiert, sind die Spannungen zwischen Berlinern und Schwaben, gewisse Vorurteile, die mir da begegnen, die mir natürlich völlig unverständlich sind. Denn wir Schwaben sind, allerdings manchmal erst auf den zweiten Blick, doch ein herzlicher Menschenschlag, mit dem sich gut auskommen lässt. Aber vieles versteht man auf den ersten Blick nicht.

Nehmen wir die berühmte schwäbische Kehrwoche: Sie ist einfach Ausdruck der schwäbischen Art der Bürgergesellschaft. Wir packen eben gerne selber an für das Gemeinwesen. Ob es nun ein Sportverein, eine lokale Gruppe, Nachbarschaftshilfe oder eben auch die Kehrwoche ist. Denn die Kehrwoche ist gelebte Subsidiarität. Und das heißt ja, dass man Probleme dort löst, wo sie auftreten. Und dass die unterste Ebene nur das weiter gibt, wo sie überfordert ist. Und das ist beim Kehren der Bürgersteige nicht der Fall. Deshalb glaube ich, dass es erst die Hausgemeinschaft macht, bevor die städtische Gebäudereinigung kommt. Und wenn man so denkt, dann vermeidet das, was ich aus Berlin gehört habe - wenn man es umgekehrt macht und es erst dann erledigt, wenn die städtische Gebäudereinigung nicht gekommen ist - dann vermeidet man, dass sich in solchen Wintertagen die Charité mit Oberschenkelhalsbrüchen verfüllt.

Das Klischee besagt, die Schwaben seien sparsam bis geizig. Aber so kann man das nicht sagen. Wir geben halt nicht so viel aus.

Ein württembergischer Finanzminister, der immer mal wieder in der Hauptstadt Berlin zu tun hatte, der soll die Übernachtungskosten auf raffinierte Art und Weise gespart haben. Als Abgeordneter hatte er freie Fahrt nach Berlin mit der Bahn. So stieg er spät abends in Berlin in den Schlafwagen Richtung Leipzig und fuhr morgens mit dem Frühzug wieder zurück in die Hauptstadt. Es soll sich dabei um Alfred Dehlinger gehandelt haben, der ab 1924 Finanzminister in Württemberg war.

Solch ausgeklügelte Formen der Sparsamkeit findet man auch bei uns inzwischen selten.

Die Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 haben andererseits nicht zuletzt damit zu tun, dass viele Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht einsehen konnten, so viel Geld auszugeben, um einen Bahnhof zu vergraben. Und ich denke an Stuttgart 21, das ist der große Kollateralnutzen dieses Konfliktes, kann man sehr gut sehen, wie sich eine neue Kultur der Bürgerbeteiligung manifestiert hat. Die Demokratie erfindet sich also immer wieder neu.

Meine zentrale These lautet: Demokratie als Ordnung der Freiheit muss immer wieder neu angeeignet und erstritten werden. Mehr Bürgerbeteiligung ist ein anstrengendes, aber lohnendes Wagnis, weil sie den Zusammenhalt der Gesellschaft und damit auch die Demokratie stärkt.

Wegmarken und Stärken der Ordnung der Freiheit

Wir wissen alle, dass unsere heutige demokratische Ordnung der Freiheit noch relativ jung ist. Sie fiel nicht vom Himmel, sondern wurde von Bürgerinnen und Bürgern erkämpft .- und wem sage ich das, gerade hier in Berlin, gerade die Berlinerinnen und Berliner haben ihren Anteil daran, dass unsere demokratische Grundordnung seit mehr als 20 Jahren in der ganzen Stadt und in ganz Deutschland gilt. Das war das Ergebnis einer Revolution, einer friedlichen Revolution von unten. Ich denke die SED hat mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Bürger mit Kerzen aus Kirchen kommen. Damit hat sie einfach nicht gerechnet. Das ist ein grandioses Beispiel dafür, was Menschen erreichen können, wenn sie sich um eine gemeinsame Idee, in diesem Fall um die Idee der Freiheit, zusammenschließen.

Sowohl Baden als auch Württemberg galten im 19. Jahrhundert als relativ fortschrittliche Verfassungsstaaten. In Karlsruhe stand mit dem ersten Parlamentsgebäude 1822 quasi die Wiege des deutschen Parlamentarismus. 1848 war dann das Großherzogtum Baden ein Zentrum der 48er-Revolution. Und auch schon damals gab es diese revolutionäre Verbindung. In Berlin gingen die Menschen am 18. März auf die Barrikaden. Die 1848er Revolution war ein Ereignis, das man in seiner Bedeutung auf dem Weg zu unserer heutigen Ordnung und lebendigen Demokratie gar nicht überschätzen kann.

Auf den 18. März fielen zwei weitere wichtige Ereignisse auf dem Weg zu unserer heutigen demokratischen Ordnung: die Ausrufung der ersten Republik auf deutschem Boden in Mainz 1793 und die erste freie Volkskammerwahl 1990. Deshalb halte ich die Überlegung für richtig, den 18. März zu einem bundesdeutschen Gedenktag zu machen, um an diese freiheitlichen und demokratischen Traditionen in Deutschland zu erinnern und sie zu würdigen.

Während des Kalten Krieges wurde Berlin - genauer: Westberlin - zum Symbol der Freiheit und die Trennung der Stadt zum Symbol der ganzen Epoche. Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland haben 1989 die Mauer zu Fall gebracht, die lang ersehnte deutsche Wiedervereinigung ermöglicht und den Weg zu einer weitergehenden Einigung Europas geebnet. Das darf man dabei nicht vergessen. Es war ja nicht nur die Mauer, sondern der Eiserne Vorhang hat den ganzen Kontinent getrennt.

Diese mutigen Bürgerinnen und Bürger, die für Demokratie und Freiheit gestritten haben, die Risiken eingegangen sind für ihre Überzeugungen, die teilweise mit ihrem Leben bezahlt haben, um Willkür und Unfreiheit zu überwinden, diese mutigen Bürgerinnen und Bürger sollten uns ein Ansporn sein, immer wieder für Freiheit einzutreten und Kraft und Mut zur Veränderung zu finden.

Es sind diese Wurzeln auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat, die uns verbinden.

Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft neu ordnen

Diese bewährte demokratische föderale Ordnung ist Herausforderungen ausgesetzt, denen wir uns stellen müssen:

  • Auf der einen Seite macht sich eine schleichende Aushöhlung der Legitimation politischer Entscheidungen bemerkbar durch eine zunehmende Nichtbeteiligung von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern. In der Tendenz sinken die Wahlbeteiligungen seit den siebziger Jahren. Auch wenn sie bei der letzten Bundestagswahl gestiegen ist, ist es immer noch die zweitniedrigste seit 1949.
  • Auf der anderen Seite wollen immer mehr Bürgerinnen und Bürger stärker an demokratischen Entscheidungen beteiligt werden. Es genügt ihnen nicht mehr alle vier oder fünf Jahre ein Kreuz zu machen. Entscheidungen, die etwa im Rahmen unseres öffentlichen Planungs- und Baurechts zustande kommen, gelten in der Bevölkerung nicht mehr von vornherein als legitim. Mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger wollen dabei aktiv mitentscheiden.

Beiden, auf den ersten Blick widersprüchlichen Entwicklungen, ist eines gemeinsam: viele haben das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik verloren. Es ist mindestens geschwächt. Eine Umfrage untermauert das Problem mit Zahlen, die uns zu denken geben müssen. Demnach glauben 37 Prozent aller Deutschen, dass die Demokratie in Deutschland weniger gut oder schlecht funktioniert. In Ostdeutschland sind es sogar schon 61 Prozent! Das ist eine dramatische Vertrauenskrise. Vertrauen ist zwar die knappste, aber wichtigste Ressource in der Politik!

Vor diesem Hintergrund lautet meine Kernthese: wir müssen das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft neu ordnen.

Jahrzehntelang sind die Diskussionen bestimmt worden durch den Antagonismus Markt oder Staat. Mit beiden Argumentationssträngen kommt man nicht mehr weit. Wer glaubt nach der Finanzkrise noch an die grenzenlosen Verheißungen entfesselter Märkte im Rahmen eines globalen Finanzkapitalismus? Aber auch der Staat alleine kann es nicht richten. Das zeigt die Staatsschuldenkrise, die viele Staaten an den Rand der Handlungsfähigkeit gebracht hat. Oder glaubt jemand von Ihnen noch allein an staatszentrierte Gestaltungs- und Problemlösungsmuster vergangener Jahre und Jahrzehnte? Ich glaube das hat stark abgenommen.

Neben Staat und Markt tritt mit immer größerem Gewicht, Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen die Bürgergesellschaft. Sie macht sich dort bemerkbar, wo Bürgerinnen und Bürger weder auf Segnungen „von oben“ warten noch in passiver Konsumentenhaltung verharren, sondern sich engagieren und aus freien Stücken aktiv werden, wo sie Beteiligung einfordern.

Staat und Markt müssen auf die jeweiligen Kernaufgaben begrenzt und mehr Raum für die Bürgergesellschaft gelassen werden. Solch eine Neuordnung erfordert eine Stärkung der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger.

Demokratische Legitimation kann aus Input erwachsen - sprich Wahlen und Verfahren - und aus Output - sprich den Ergebnissen politischer Prozesse und der Problemlösungskompetenz der öffentlichen Institutionen. Die Herausforderung für mehr Beteiligung besteht darin, beides zu stärken: sowohl die Input-Legitimation, als auch die Problemlösungskompetenz unserer demokratischen Institutionen.

Ich habe im Landtagswahlkampf deswegen den Begriff der Politik des Gehörtwerdens eingeführt. Aber ich habe dabei immer auch gesagt, es kann nicht heißen, dass ich Baden-Württemberg zum größten Debattierclub aller Zeiten machen möchte in dem nichts mehr entschieden wird. Ganz im Gegenteil. Deshalb will ich im Folgenden einen vertieften Blick auf beides werfen.

Mehr direkte Demokratie wagen

Sie wissen: Der Konflikt um Stuttgart 21 hat die Bürgerschaft in Stuttgart und im Land Baden-Württemberg tief gespalten. Macht das Projekt Sinn? Ist es Milliarden an Investitionen wert? Welche Chancen und welche Risiken sind damit verbunden? Wohl kaum wurde in der Bundesrepublik über einen einzelnen Bahnhof mehr und leidenschaftlicher gestritten. Und als der Papst Benedikt Baden-Württemberg besucht hat und ich die Ehre einer kleinen Privataudienz hatte, war ich dann doch sehr erstaunt, dass er mich nach Stuttgart 21 gefragt hat. Da war ich etwas geplättet. Natürlich hat ihn weniger der Bahnhof an sich interessiert, als was eigentlich zu diesem Konflikt geführt hat.

Dieser Widerstand ging durch alle Bevölkerungsgruppen. Selten zuvor haben so viele Menschen aus allen Schichten wie in Stuttgart gegen ein Bauprojekt protestiert. Es folgten die sogenannten Schlichtungsgespräche unter der Leitung von Heiner Geißler - live im Fernsehen übertragen. Millionen Menschen haben da stundenlang zugeschaut, da ging es ja um hochtechnische Fragen. Das war schon überraschend, was Menschen alles machen, wenn es um solch einen Konflikt geht. Und schließlich die Landtagswahl 2011 mit dem Machtwechsel von Schwarz-Gelb hin zu Grün-Rot.

Wir Grünen waren entschieden gegen S21, die SPD ebenso entschieden dafür. Die Planungen waren weit gediehen, die ersten Baumaßnahmen ergriffen, die ersten Bäume gefällt. Was nun?

Wir haben ein großes demokratisches Experiment gemacht und eine Volksabstimmung durchgeführt. Die erste Volksabstimmung in Baden-Württemberg seit der Neugliederung unseres Landes. Das war die einzige Möglichkeit, so haben wir es gesehen, die Polarisierung zu entschärfen.

Die Mehrheit hat im Volksentscheid entschieden, dass das Land nicht aus den Verträgen aussteigen und S21 damit gebaut werden soll. Das war für mich ein sehr harter Tag. Ich habe 10 Jahre gegen dieses Projekt gestritten. Aber wir waren auch immer die großen Streiter für direkte Demokratie. Jetzt hat man es endlich mal hingebracht, dass direkt entschieden wurde in einem Volksentscheid und sofort haben wir eins auf die Mütze bekommen. Das war natürlich wirklich hart. Aber ich habe schon vor der Volksabstimmung unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Entscheidung der Bürger gilt. Egal wie sie ausfällt. Ich bin zwar Ministerpräsident, aber der Souverän steht nun mal über mir. Der Volksentscheid bindet die Exekutive. Das ist einfach so, auch wenn heute ein hartgebliebener Gegnerkern das irgendwie nicht einsehen möchte. Aber so ist es nun einmal.

Als Regierung versuchen wir nun die richtigen Schlüsse aus diesem Konflikt zu ziehen. Wir nennen es die Politik des Gehörtwerdens. Wir wollen mehr direkte Demokratie wagen. Dazu gehört:

  • Die Hürden für Volksbegehren- und -abstimmungen zu senken. Fragen, die breite Teile der Bürgerschaft umtreiben, müssen von dieser einer verbindlichen Volksabstimmung zugeführt werden können. Bislang müssen in Baden-Württemberg 33% der Wahlberechtigten bei einem Volksentscheid zustimmen, damit er erfolgreich wird. Das ist natürlich so gut wie ausgeschlossen. Deswegen hat es auch noch nicht stattgefunden. Das ist eine hohe Hürde; in Berlin liegt sie bei nur 25%. Nach langen Verhandlungen haben sich diese Woche alle Fraktionen im baden-württembergischen Landtag darauf geeinigt, das Quorum auf 20% zu senken. Ein echter Durchbruch für mehr direkte Demokratie!
  • Auch auf der kommunalen Ebene werden wir die Regeln für Bürgerbegehren und - entscheide senken und Hürden abbauen. Die Zeiten, in denen eine Regierung etwas vorschlägt und dann diese Pläne einfach durchdrückt, müssen vorbei sein. Das heißt mehr Bürgerbeteiligung hat zwei Bedingungen. Auf der Seite der Institutionen muss Transparenz und Offenheit herrschen. Offenheit meint dabei, es muss immer Offenheit bei den Alternativen geben. Ich glaube das Wort „alternativlos“ war nicht zu Unrecht das Unwort des Jahres 2010. Das ist gerade der Charme der Demokratie, dass sie in Alternativen denkt. Das erscheint mir ganz entscheidend wichtig. Die Zivilgesellschaft - ich nenn jetzt mal den Begriff, den Sie nicht mögen - die Zivilgesellschaft hat natürlich ebenfalls eine Bringschuld. Sie muss bei allen Konflikten gewaltfrei bleiben, aber im Kern auch frei von Fanatismus. Es besorgt mich natürlich, dass in all diesen Auseinandersetzungen sich schnell kleine Kerne relativ fanatischer Gruppen herausbilden, die dann das, was der Sinn des Ganzen ist, einen einigermaßen vernünftigen Streit und Diskurs zu führen, sehr erschweren. ich hoffe jedenfalls, dass wir da Fortschritte erzielen.

Mehr Bürgerbeteiligung wagen

Darüber hinaus wollen wir mehr Bürgerbeteiligung wagen.

Deswegen haben wir einen Planungsleitfaden auf den Weg gebracht, der eine frühere und umfassendere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger vorsieht. Meine Erfahrung ist nämlich, wenn die formalen Anhörungen im Planfeststellungsverfahren stattfinden, wenn die Bürgerschaft dann den Eindruck hat, dass hinter den Kulissen im Prinzip alles schon entschieden ist, dann ist das immer der größte Vertrauensverlust und -bruch und der ist dann nicht mehr zu heilen. Deswegen ist es ganz entscheidend, dass eine frühere und umfassendere Bürgerbeteiligung stattfindet. Das sieht unser Planungsleitfaden vor. Denn durch diese Beteiligung steigt die Akzeptanz, ohne die wir Großprojekte ja gar nicht mehr durchführen können. Zum anderen können die kritischen Anregungen der Bürgerinnen und Bürger die Qualität von Planungen verbessern und einen gelungenen Interessensausgleich zum Ergebnis haben. Und deswegen haben wir jetzt für eine umfassende, frühe und intensive Bürgerbeteiligung gesorgt.

Das haben wir zum ersten Mal beim Projekt eines Nationalparks im Schwarzwald gemacht. Dieser umfasst  0,7 Prozent der Waldfläche Baden-Württembergs und wird mit 10 000 Hektar einer der größeren Nationalparks in Deutschland sein. Er leistet damit einen großen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität und der Artenvielfalt. Wir haben das Vorhaben im Wahlprogramm angekündigt und im Koalitionsvertrag vereinbart. Es ist so gesehen demokratisch legitimiert.

Dennoch haben wir regionale Arbeitskreise eingerichtet, über 100 Informationsveranstaltungen durchgeführt und eine Online-Kommentierung ermöglicht. Trotzdem hat sich vor Ort starker Widerstand gegen das Projekt formiert. In Bürgerbefragungen haben 7 Gemeinden den Nationalpark mit großer Mehrheit abgelehnt.

Wir haben aufgrund der Sorgen und Wünsche von vor Ort zahlreiche Änderungen vorgenommen: eine andere Gebietsabgrenzung, wir sind den Interessen der Holzindustrie entgegen gekommen; ein effektives Borkenkäfermanagement zugesichert; die gleichberechtigte Mitsprache der Region und Vorsitz im Nationalparkrat und vieles mehr. Das heißt die intensive Beteiligung hat dazu geführt, dass das Gesetzesvorhaben relevant geändert wird. Das hat das Projekt also in diesem Sinne verbessert. Aber es war außerordentlich anstrengend, teilweise ein Hexenkessel, in den man da rein musste, als Vertreter der Institution. Aber es macht eben auch deutlich, dass durch Bürgerbeteiligung auch Erwartungen geweckt werden, die nicht alle erfüllt werden können.

Das kann dann natürlich zu erheblichen Frustrationen führen. Deshalb sind unsere zentralen Lehren aus dem Projekt:

  • Es muss ganz klar sein, um was es bei Beteiligung geht und um was nicht. Geht es um das „ob“ oder nur, um das „wie“? Die Bedingungen, auch das Kleingedruckte, müssen allen klar sein, und zwar von Anfang an. Transparenz und Offenheit sind hier ganz entscheidend. Aber auch: wer entscheidet am Ende? Auch das muss zu Beginn klar sein.
  • Die Menschen müssen lernen, dass beteiligen nicht immer heißt auch zu entscheiden. Die Grenzen der Beteiligung müssen den Beteiligten also ganz klar sein.

Das heißt letztlich entscheiden die gewählten Organe, die unsere Verfassung vorsieht: Gemeinderat, Landtag, Bundestag oder bei direkter Demokratie das Volk selbst. Aber es muss auch klar sein, auch das stellen wir fest bei solchen Entscheidungen entscheidet die Mehrheit und nicht die Wahrheit! Das war schon bei S21 immer ein Problem. Da erschallt dann immer der Ruf „Lügenpack“. Und jetzt bei denen, die diesen Volksentscheid nicht akzeptieren, die sagen immer es sei gelogen worden und so weiter und so fort.

Das muss auch klar sein, das ist bei Entscheidungen in der Demokratie wichtig, dass da nicht über Lüge und Wahrheit entschieden wird. Das ist in Diktaturen der Fall. Das ist durch unsere verfassungsmäßige Ordnung gelöst. Ich meine jetzt nicht in dem Sinn, dass nicht auch gelogen wird in der Politik. Schon in Psalm1 heißt es „Die Menschen lügen alle.“ Das meine ich nicht. Es geht darum, dass sozusagen systematisch nicht zwischen Wahrheit und Lüge entschieden wird. Das wäre ein großes Missverständnis. Die Minderheit muss also nicht das Gefühl haben, sie müsse ihre Meinung jetzt einfach ändern und sie ist quasi der Lüge überführt worden durch eine Abstimmung oder Wahl. Denn das wissen wir: die Mehrheit kann genauso irren wie die Minderheit. Und die Narren von heute können die Helden von morgen sein, aber sie können natürlich auch die Obernarren von morgen sein. Das weiß man so genau nicht immer.

Humor und Trauer liegen manchmal sehr nah beieinander. Wir haben gestern eine der herausragenden politischen Persönlichkeiten unseres Landes verloren. Manfred Rommel war ein Leuchtturm schwäbischer Toleranz und Weltoffenheit. Und er war ein gutes Beispiel dafür, dass Politik durch Humor gewinnt. Er hat mit Humor sogar richtig Politik gemacht. Wir werden Manfred Rommel sehr vermissen.

Manfred Rommel hat einmal gesagt: „Zur Demokratie gehört, dass man nicht jeden Interessenhaufen zum Volk erklärt.“ Da hatte er Recht. Eine kleine Gruppe kann den Prozess auch blockieren. Aber unterliegt man, dann muss man auch lernen, das zu akzeptieren. Das heißt wir Bürgerinnen und Bürger müssen lernen mit mehr direkter Verantwortung umzugehen. Den Skeptikern möchte ich sagen: unser Nachbarland Schweiz hat darin eine lange Tradition und Erfahrung. Wir sind noch unerfahren darin. Aber die Schweiz ist auch mit der direkten Demokratie eine wirklich erfolgreiche Industrienation geworden. Und wir dürfen da auch mehr Vertrauen in unsere Bürgerschaft haben. Das ist eine ziemliche Wegstrecke, aber wir werden auch besser begreifen, dass wir diesen Prozess brauchen, in dem Sinne wie Sie es dargestellt haben, Herr Hassemer, dass wir auf Augenhöhe mit der Bürgerschaft reden, aber auch klar ist, zum Schluss entscheiden die gewählten Organe oder das Volk selber, wenn es Volksabstimmungen gibt. Soweit zu diesem Thema.

Stärken des Föderalismus

Neben der Stärkung der Demokratie und der Bürgerbeteiligung, spielt die Erneuerung des Föderalismus eine essentielle Rolle, um uns für die Herausforderungen von Morgen zu rüsten:

  • Wir müssen die Energiewende meistern. Sie steht dafür, dass wir im Kern Wirtschaftswachstum entkoppeln müssen vom Naturverbrauch, denn wir wissen wie die Bevölkerung auf der Erde wächst. Sonst ruinieren wir den Planeten, also Entkoppelung  wirtschaftlicher Entwicklung vom Naturverbrauch;
  • Die wirtschaftliche Stärke und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sichern;
  • Forschung und Entwicklung dafür stärken;
  • Den Bildungserfolg müssen wir von der Herkunft entkoppeln. Wir sind ein kinderarmes Land, wie andere Industrienationen auch. Allein Baden-Württemberg wird bis 2030 400 000 Schülerinnen und Schüler weniger als 1980 haben. Dann fällt die Zahl unter eine 1 Million bei uns. Das ist natürlich dramatisch.
  • Und wir müssen natürlich den europäischen Prozess vorantreiben.

Es lohnt sich allerdings zuerst zu vergegenwärtigen, was wir am heutigen Föderalismus haben, was seine Stärken sind. Erst dann kann man den Blick nach vorne richten. Also, wo stehen wir?
Wir leben in einem föderalen demokratischen Staat, der durch den Gedanken der Subsidiarität geprägt ist. Der Artikel 70 Absatz 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht.“

Mir ist wichtig, dass wir dies nicht vergessen. Die Kommunen sind die Keimzelle unseres Staatswesens. Die kommunale Selbstverwaltung, wie sie in Baden-Württemberg besonders stark ausgeprägt ist – ist eine großartige Erfindung der Demokratie. Ich möchte sogar weiter gehen: Gemeindefreiheit und kommunale Selbstverwaltung sind etwas, das gerade der deutsche Sprachraum in die europäische Ideen- und Freiheitsgeschichte eingebracht hat. Das ist wichtig. Das dürfen wir nicht vergessen: Gemeindefreiheit und kommunale Selbstverwaltung im föderalen Gefüge.

Es ist einfach so, dass wir die ganzen regionalen Besonderheiten besser berücksichtigen können, als ein zentralistischer Staat. Denken Sie nur an die Schulpolitik. Sie schon in einem Flächenland wie Baden-Württemberg von Stuttgart aus zu gestalten, ist eine echte Herausforderung. Über 100 000 Lehrerinnen und Lehrer, über 1 Million Schülerinnen und Schüler, 5000 Schulen verschiedener Art überhaupt zu handeln in ganz unterschiedlichen Regionen, das geht schon an Rand der Überforderung. Und deswegen werden wir auch versuchen mehr an die Schulgemeinschaften und Kommunen zu delegieren. Aber das, was ja offensichtlich in Deutschland so populär ist, jetzt auch die Bildungspolitik einheitlich zu machen, das wäre grausam, glauben sie es mir. Zwar sind sofort 80 Prozent dafür, wenn man sagt ein Schulbuch für alle in Deutschland, aber im nächsten Satz sagt mir derselbe mein Kind bedarf einer ganz besonderen Pflege im Unterricht. Da widersprechen viele Leute sich quasi in drei Minuten. Deshalb ist es richtig, dass die Bildung Länderkompetenz ist und bleibt.

Aber ich glaube wir können eine bessere Repräsentation gewährleisten als ein zentralistischer Staat. Gerade in Zeiten der Globalisierung wird es immer wichtiger, Ansprechpartner vor Ort zu haben und repräsentiert zu sein. Flapsig formuliert: können Sie sich vorstellen, dass ich in einem angesagten Berliner Club Techno auflege oder, dass Klaus Wowereit in Donaueschingen von der Kanzel predigt? Manche sagen der Wowereit passe zu Berlin, der Kretschmann zu Baden-Württemberg. Da ist wahrscheinlich was dran. Aber ohne den Föderalismus gäbe es weder einen Regierenden Bürgermeister Wowereit in Berlin, noch einen Ministerpräsidenten Kretschmann in Baden-Württemberg. Das ist mehr das kulturelle Hintergrundrauschen, das allerdings vor Ort immer noch sehr wichtig ist.

Es wird dem Föderalismus aber auch vorgeworfen, er sei zu langsam und nicht ausreichend handlungsfähig. Ich glaube, dass beide Vorwürfe ins Leere laufen.

Wenn Sie sich das dramatische Hochwasser dieses Jahr anschauen mit einem Schaden von insgesamt mehr als 8 Milliarden Euro. Das haben wir in einem enormen Tempo, unbürokratisch und schnell beschlossen. Wir haben gezeigt, dass wir außerordentlich schnell und handlungsfähig sind.

Oder wenn Sie das Suchverfahren für ein Atom-Endlager anschauen. Da haben wir in anderthalb Jahr einen Durchbruch und einen nationalen Konsens für das wahrscheinlich schwierigste Infrastrukturprojekt aller Zeiten erzielt. Und ich konnte daran mitwirken, weil wir einen Standort im eigenen Land nicht ausgeschlossen haben. Also das, was Sie gefordert haben Herr Hassemer, dass es ums Gemeinwohl geht. Natürlich, wer will schon ein Atommülllager? Aber irgendwo muss das Zeugs ja wohl hin. Es zeigt, wie handlungsfähig wir sind.

Heute ist es mit der neuen Bundesratspräsidentschaft von Ministerpräsident Weil noch einmal deutlich geworden, dass der Bundesrat im Vermittlungsausschuss in etwa 90% aller Fälle Konsense und Kompromisse findet. Ich war letztens auf einer Konferenz der Präsidenten der zweiten Kammern in London während meiner Bundesratspräsidentschaft. Alle beneiden uns, um diesen Vermittlungsausschuss. Und ich denke, dass wir zu solchen Konsensen fähig sind, auch wenn unterschiedliche politische Mehrheiten da sind in Bundestag und Bundesrat, was übrigens seit der Gründung der Bundesrepublik überwiegend der Fall war, also eher der Normallfall. Das ist einer der Gründe für Kontinuität und Stärke von Deutschland. Davon bin ich überzeugt. Und wenn wir über den Atlantik Richtung USA gucken, dann sehen wir wie gut es uns in dieser Hinsicht geht. Wir sehen wie sich dort die Verfassungsorgane blockieren.

Föderalismus heißt große Verantwortung für die Länder. Wenn wir diese wahrnehmen, dann ist Deutschland aber auch stark und handlungsfähig.

Föderalismus erneuern

Wir sind damit gut gefahren, dürfen uns aber darauf nicht ausruhen und sollten reformfähig sein und wir müssen einige Defizite angehen. Daher sollten wir die föderale Ordnung immer wieder kritisch hinterfragen und erneuern. Die Leitfrage dabei lautet: Welche Ebene kann am besten welche Aufgabe wahrnehmen? Dabei müssen wir von unten nach oben denken – subsidiär.

Solidarität ist ein zentraler Anker unserer Ordnung. Das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik ist richtig. Obwohl ich anmerken darf, das ist kein Staatsziel, wie immer viele glauben. Es regelt nur die konkurrierende Gesetzgebung. Aber das nur nebenbei. Aber ist der heutige Länderfinanzausgleich noch zeitgemäß? Ich glaube wir brauchen auch in Zukunft Solidarität - ganz klar. Und alle Länder müssen in der Lage sein, ihre Aufgaben zu erfüllen. Und ich weiß auch, dass in Zeiten der Schuldenbremse - ab 2020 dürfen die Länder keine neuen Schulden mehr machen - kein Land auf Einnahmen verzichten kann - aber eben auch kein Land noch mehr zahlen kann. Das gilt auch für Baden-Württemberg. Auch wir müssen uns in einem harten Prozess konsolidieren.

Aber die Frage, ob das Geld richtig verteilt und an den richtigen Stellen ankommt, muss man stellen. Klar ist jedenfalls, dass wir Länder uns erst mal mit dem Bund verständigen müssen, dass das Steueraufkommen so verteilt wird, dass wir unsere Aufgaben erfüllen können. Da reden wir über die Hilfe bei Altschulden, darüber, was mit den freiwerdenden Solidarpaktmitteln wird und ob wir mit einem Bundesleistungsgesetz von Kosten der Eingliederungshilfe, was wir beim Fiskalpakt mit der Bundesregierung verhandelt haben, entlastet werden. Und wenn da Entlastung kommt, werden wir Länder auch untereinander anders über den Ausgleich reden können.

Und da muss man sich natürlich auch darüber unterhalten, ob der Ausgleich der Sonderbedarfe der Stadtstaate, insbesondere Berlins, eine Aufgabe der Länder ist oder ob das nicht eher Aufgabe des Bundes ist. Der könnte hier über Ergänzungszuweisungen den Bedarf abdecken. Das würde uns im Länderfinanzausgleich enorm entlasten und das Volumen verkleinern.

10% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Wissenschaft und Bildung -  das war die Verabredung zwischen der Ministerpräsidentenkonferenz und der Kanzlerin. Da fehlt noch was. Da ist der Bund in der Pflicht. Dazu muss man auch kein Grundgesetz ändern. Da muss man nach Artikel 106 unserer Verfassung nur die Umsatzsteuer entsprechend verteilen. Und ich bin gerne bereit mich per Staatsvertrag zu verpflichten, das Geld zusätzlich in die Bildung zu stecken und nicht damit Löcher in den Straßen zu stopfen. Aber das ist ein schwieriger Weg. Und deshalb ist die Bereitschaft inzwischen groß, dass wir insgesamt diese Finanzbeziehungen auf den Prüfstand stellen. Dabei ist wichtig, dass wir nicht immer nur einen nackten Interessensausgleich machen, sondern immer auch fragen: Was ist eine gute politische Ordnung der Dinge? So wie es sich unsere Mütter und Väter der Verfassungsordnung gefragt haben. Und je früher wir deswegen darüber reden und entscheiden, desto größer ist die Chance, dass wir auch etwas Vernünftiges gestalten können. Denn es kann doch nicht sinnvoll sein, dass wenn Geberländer mehr Steuern generieren, das Allermeiste in den Länderfinanzausgleich kommt. Tut es ein Nehmerland, bekommt es weniger aus dem Länderfinanzausgleich. Das sind recht anreizfeindliche Strukturen. Ich denke, die sollten wir auf den Prüfstand stellen. Wir sollten Solidarität nicht nur bewahren, sondern auch so gestalten, dass alle rauskommen aus ihren Problemen und nicht darin bleiben. Das sollte der Anreiz sein und ich denke, dass wir da weiter kommen müssen.

Unser Blick darf nicht an den Grenzen der Bundesrepublik halt machen. Wir leben in einem europäischen föderalen System und die Welt verändert sich rasant. Wir müssen uns immer überlegen, der Anteil der Deutschen an der Weltbevölkerung beträgt knapp 1 Prozent. Der Anteil der Menschen, die in der Europäischen Union leben, macht etwa 8% aus. 2050 werden es etwa 5% sein. Wenn wir uns da nicht nach der Decke strecken, dann werden wir Einfluss verlieren mit einer schrumpfenden Bevölkerung.  Daher müssen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihre Kräfte bündeln. Und wenn ich von Subsidiarität rede, möchte fragen: macht es in solch einer globalisierten Welt wirklich Sinn, dass wir 28 Außenminister haben? Können die in Zukunft noch etwas bewirken? Und mitspielen in diesem großen Konzert? Sie kennen ja die Ansage von Henry Kissinger, er wisse die Nummer nicht, wenn er Europa anrufen solle. Und er hat bis heute keine Nummer bekommen.

Wir sollten immer wieder Abstand vom Tagesgeschäft nehmen und solche langen politischen Linien denken. Diejenigen, die die nationale Souveränität ängstlich umklammern, die werden diese vielleicht auf dem Papier festhalten können, aber in der globalen Welt von morgen oder übermorgen, würde das eine Souveränität sein, die an Gewicht und Gestaltungskraft verloren hätte.

Deshalb sage ich gerade als überzeugter Föderalist ganz klar: Wir brauchen Schritt für Schritt eine stärkere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU. Wenn wir nach außen nicht mit einer gemeinsamen Stimme auftreten, werden wir an Einfluss verlieren. Das gilt übrigens angesichts der Finanz- und Staatsschuldenkrise auch für andere Bereiche. Eine gemeinsame Währung funktioniert auf Dauer nicht ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deswegen müssen wir Schritte hin zu einer Fiskalunion gehen. So einfach sehe ich das. Zentral dabei ist, dass das europäische Parlament als direkte demokratische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger gestärkt wird. Natürlich sind Krisen immer Zeiten der Exekutive, aber die intergouvermentale Praxis, die sich dann sehr ein tieft, wenn wir die weiter betreiben, kommen wir leicht in ein Demokratiedefizit. Und das können wir uns, wenn wir uns in Europa umschauen, mit populistischen, antieuropäischen Bewegungen, die überall hochkommen, nicht erlauben.

Sehr geehrte Damen und Herren, das Schöne und Starke an unserer demokratischen Ordnung ist die Offenheit, die Möglichkeit miteinander zu streiten und zu ringen. Mein Plädoyer lautet: Wir sollten den Föderalismus erneuern, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft neu ordnen und mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung wagen.

Eine starke Bürgergesellschaft, die sich direkt einbringen und beteiligen kann, ist die größte Garantie, dass unsere gute politische Ordnung der Dinge nicht verkümmert, sondern lebendig und kraftvoll bleibt. Wir können sehen, überall dort, wo wir starke Bürgergesellschaften haben sind auch die Demokratien stark. Und dort, wo sie schwach sind, haben wir auch schwache Demokratien. Wie die Philosophin Hannah Arendt so treffend gesagt hat: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir alle sozusagen politischer werden und dass Berlin - als Stadt und als Symbol für Deutschland insgesamt - dieser Ort der Freiheit bleibt. Vielen Dank."

Stiftung Zukunft Berlin: Hauptstadt-Reden

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