Donaueschinger Kanzelreden

Der Sinn der Bürgergesellschaft

Portätfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Garten der Villa Reitzenstein.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich natürlich sehr und empfinde es als eine große Ehre, dass ich heute im Rahmen der Donaueschinger Kanzelreden zu Ihnen sprechen darf. Es tut mir leid, dass der ursprüngliche Termin verschoben werden musste. Sie haben sicherVerständnis dafür, dass die für jenen Sonntag angesetzte Bund- und Länderverhandlung zum Fiskalpakt für mich ein unabweisbarer Pflichttermin war. Und was immer man von den Ergebnissen auch halten mag, haben wir dort um einen Konsens gerungen und die Länder haben fast einstimmig – 15 von 16 Ländern – dem Fiskalpakt zugestimmt.

Es ist in solch einer schweren Krise ein wichtiges Signal, kompromissbereit zu sein und auf Einheit zu zielen. Denn es ist für andere Länder ja noch viel schwieriger. Es geht um Vertrauen.

Heute aber bin ich nun gerne zu Ihnen gekommen und besonders freut mich natürlich, meinem alten Pfarrer von Laiz, Herrn Loks, wieder zu begegnen. Meine Familie verbindet viel mit ihm. Er hat alle unsere Kinder getauft und so konnte ich ihm diese Bitte, hier zu sprechen, nicht abschlagen.

Ich möchte heute, wenn ich schon von einer Kanzel in einer Kirche spreche, nicht über sehr konkrete Maßnahmen der Politik und Projekte reden. Das ist ja sonst mein tägliches Brot. Heute möchte ich ein wenig tiefer schürfen und mich mit der Sinnfrage beschäftigen: Der Frage nach dem Sinn der Bürgergesellschaft.

Staat, Markt, Bürgergesellschaft – Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

Dazu eine zunächst vielleicht etwas skurril anmutende Beobachtung, die sich im Werk eines Politikwissenschaftlers aus den neunziger Jahren findet. Dieser Politikwissenschaftler, Robert Putnam mit Namen, wollte eines Tages der Frage nachgehen, warum in Italien in manchen Regionen die lokale Demokratie sehr gut, und in anderen wiederum sehr schlecht funktioniert. Was er dabei auf der Suche nach einer Antwort fand, waren – überraschenderweise – Gesangsvereine. Je mehr es davon in einer Region gab, desto besser waren dort Politik und Verwaltung. Das ist sicher nicht nur ein Beleg für die fördernde Wirkung des gemeinschaftlichen Singens, es ist sicher mehr. Die Anekdote zeigt vielmehr, dass ein freiheitlicher Staat immer von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal formulierte. Denn die Politik hat es mit der schwierigen Aufgabe, meine Damen und Herren, zu tun, das Zusammenleben der Menschen in einer großen Gemeinschaft zu organisieren.

Warum ist diese Aufgabe schwierig? Hannah Arendt hat das in einem fundamentalen Satz auf den Punkt gebracht. Der Satz heißt: „Grundlage aller Politik ist die Pluralität des Menschen“. Kein Mensch ist wie der andere, wir sind alle grundverschieden. Allein die theoretische genetische Vielfalt der Menschen ist größer als die Anzahl der Atome im Universum. Hannah Arendt spricht deswegen, als Gegensatz zur Sterblichkeit, von der die alten Griechen sprachen – sie nannten die Menschen ja auch die Sterblichen – von der Natalität des Menschen als ein großes Ereignis. Und ich glaube, dass die Freude über die Geburt eines Kindes auch deswegen so groß ist, weil wir bei der Geburt eines jeden neuen Erdenbürgers spüren: Es ist ein neuer Mensch. Keiner vor ihm war so wie er selber und keiner nach ihm wird wieder so sein. Das spüren wir einfach und deswegen ist es immer ein so großes Ereignis, wenn ein neues Kind geboren wird. Und darum, weil das so ist, kann jeder neue Mensch die Welt verändern. Jeder.

Wenn Sie sich diese Tatsache der Verschiedenheit der Menschen bewusst machen, haben Sie die Politik und ihren Sinn schon verstanden. Und damit diese verschiedenen Menschen ihre Fähigkeiten entfalten können, bedarf es der Freiheit. Und deswegen, sagt Hannah Arendt, ist der Sinn von Politik Freiheit. Kein Mensch ist wie der andere, wir sind alle grundverschieden und diese Pluralität nimmt in der modernen Gesellschaft immer weiter zu. Die individuellen Lebensentwürfe vervielfältigen sich, die kulturellen Hintergründe werden immer bunter und es wird immer schwieriger, sich auf einen gemeinsamen Wertebestand zu verständigen.

Das zeigt zuletzt die aktuelle Debatte zum Beschneidungsurteil. Das Grundrecht auf Religion kollidiert hier nach Ansicht der Richter mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Und Sie sehen auf einmal, wie da die Urteile – beides steht ja in unserer Verfassung – aufeinanderkrachen.

Es ist sonnenklar, dass wir das weiter erlauben müssen. Das findet ja seit Jahrtausenden statt und ist für die Juden ja etwas absolut konstituierendes, so wie für uns die Taufe. Aber Sie sehen, dass selbst solche Fundamentalgebote auf einmal in Frage gestellt werden. Darin zeigt sich, dass gerade ein auf Individualismus und Pluralismus angelegtes Gemeinwesen auf Verbindendes gar nicht verzichten kann. Woher aber soll das Verbindende kommen? Was sind die verbindlichen Regeln für ein gelingendes Zusammenleben in unserer Gesellschaft? Sind es etwa die Regeln des freien Marktes, denen alle Lebensbereiche unterworfen werden sollten? In diesen krisengeschüttelten Zeiten glaubt daran ernsthaft niemand mehr. Und deswegen sprechen wir von so etwas wie einer sozialen Marktwirtschaft. In Zukunft sicher auch von einer sozialökologischen Marktwirtschaft, das heißt, der Markt in sozialen und ökologischen Regeln eingehegt und eingerahmt.

Was ist das Ganze stattdessen? Ist es staatliche Regulierung, sind es Gesetze und Vorschriften, Bürokratie und Verwaltung, die ein plurales Gemeinwesen zusammenhalten?

Angesichts der hohen Verschuldungsquoten selbst von Industrienationen glauben wir auch nicht mehr an diese Allmacht des Staates, sondern im Gegenteil höre ich überall Klagen über eine überbordende Bürokratie.

Wir können die Lösung aller Probleme weder im übersteigerten Staatsverständnis, noch gar in den Phantasien eines radikalen Marktes suchen. Sondern Wettbewerb und Marktwirtschaft sind auf der einen Seite und auf der anderen staatliche Autorität und Regulierung zentrale Elemente der Organisation einer Gesellschaft.

Es muss aber noch ein Drittes hinzukommen: Neben Staat und Markt tritt mit immer größerem Gewicht, Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen die Bürgergesellschaft – oder die Zivilgesellschaft, wie wir sie auch nennen. Und sie macht sich überall dort bemerkbar, wo Bürgerinnen und Bürger nicht in passiver Konsumentenhaltung verharren, sondern die Gestaltung ihres Gemeinwesens ein Stück weit selbst in die Hand nehmen.

In Kirchen und Vereinen aller Art, ob sportlich, sozial, kulturell, ökologisch; in Bürgerinitiativen, in der Nachbarschaft und in Selbsthilfegruppen – natürlich auch in den genannten Gesangsvereinen – überall sind Menschen und Bürgerschaften ehrenamtlich aktiv.

Und nirgendwo in Deutschland sind es so viele wie hier bei uns in Baden- Württemberg. Das ist das eigentliche Pfund, das wir in diesem Land haben. Dazu kommen auch die Verbände und Gewerkschaften, also diejenigen Gruppen, die sich die Interessenswahrung ihrer Mitglieder zum Anliegen gemacht haben.

Bürgerschaftliches Engagement heißt also, dass Bürgerinnen und Bürger Anteil an ihrem Gemeinwesen nehmen und sich einbringen, sei es vor Ort oder sei es im Internet. Heute ist alles möglich.

In einer Zeit, die immer wieder als Zeit des Wertewandels – manche reden auch vom Werteverfall – beschrieben wird, in einer Gesellschaft, die viele als zunehmend gespalten und fragmentiert wahrnehmen, ist das große Engagement der Menschen in unserem Land keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig ist aber ein pluralistisches Gemeinwesen gar nicht denkbar ohne die gesellschaftlichen Bindekräfte, die aus dem freiwilligen Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger erwachsen.

Die große Frage, die sich stellt, ist: Wird das auch in Zukunft so bleiben? Und was können wir tun, dass es so bleibt? Und warum ist es überhaupt so wichtig, so lange wir einigermaßen funktionierende Märkte und einigermaßen funktionierende Staaten haben?

Es gibt nicht wenige Tendenzen, die dem entgegenlaufen: Zum Beispiel Individualismus. Ja, wir wissen alle, der Schritt vom Individualismus zum Egoismus ist unter Umständen sehr klein. Aber das meine ich noch gar nicht. Dieser Individualismus hat nochmal ganz kräftig an Fahrt aufgenommen. Wir sehen das zum Beispiel an dem Problem der Kirchen. Viele sind nicht mehr bereit, dieses große oder großartige Dogmengebäude der Kirche einfach so zu akzeptieren. Wir sehen, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Nämlich das, was die Soziologen als Phänomen der „Bastel-Religion“ bezeichnen. Das heißt, dass sich die Menschen ganz individuell ihr religiöses Gebäude zusammenbauen.

An diesem Beispiel sieht man, wie dieser Individualismus immer weiter geht und das Ende wohl noch nicht erreicht ist. Aber wir sehen auch die Komplexität und die Unübersichtlichkeit vieler Lebensverhältnisse, in denen man sich gar nicht mehr richtig zu orientieren weiß. Wir sehen die Globalisierung, aufgrund derer wir oft den Eindruck haben, dass das, was wir tun, gar nicht mehr wirksam ist. Oder wir sehen es auch am Überangebot an Konsumgütern, an Medien, am Internet, an der Geldkultur; all dies hält viele Leute davon ab, sich zu engagieren.

Womit können wir also werben, sich in der Bürgergesellschaft zu engagieren? Wovon ich abrate, ist, zu behaupten, es macht Spaß. Ich werde auch dauernd gefragt, ob mir Politik noch Spaß macht. Das verneine ich natürlich regelmäßig. Ich glaube ja, dass allein die Frage, ob Politik Spaß macht, schon ein Teil des Problems ist. Denn darauf mit ja oder mit nein zu antworten, hinterlässt sofort ein ungutes Gefühl. Und ich finde es auch allmählich etwas zwanghaft, diese Frage, ob etwas Spaß macht. Egal, was man als Beruf ausübt, in welcher Ausbildung man sich befindet; im Verein oder der Freizeit: Alles muss Spaß machen.

Meine Antwort auf diese Frage, ob mir Politik Spaß macht, ist: Politik macht keinen Spaß, Politik macht Sinn! Und mein Plädoyer ist, uns auf diese Frage nach dem Sinn einzulassen. Sich in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft zu engagieren, macht nämlich Sinn. Und das sollte der Boden für unsere Überzeugungsarbeit sein. In zweierlei Hinsicht: Es macht Sinn für die Gemeinschaft und die Gesellschaft. Aber es macht auch Sinn für denjenigen, der sich engagiert.

Viele engagieren sich nämlich nicht, weil sie glauben, dass es sinnlos sei. Es fallen dann Sätze wie: „Man kann ja sowieso nichts ausrichten“, wie zum Beispiel gegen die Interessen der Wirtschaft. Oder: „Die da oben machen ja sowieso, was sie wollen.“ Oder man schimpft ganz allgemein auf die Politik. Und immer mehr Leute gehen nicht einmal zur Wahl, obwohl es kein großer Aufwand ist, alle vier oder fünf Jahre am Sonntag mal ein Kreuz zu machen. Die Argumente lauten auch dort: „Ihr seid sowieso alle gleich“ und „Keiner vertritt meine Interessen“.

Es sind jedenfalls alles Argumente, die Engagement als sinnlos erscheinen lassen. Viele sagen allerdings auch, sie hätten gar keine Zeit und engagieren sich deswegen nicht.

Dieses letzte Argument ist das merkwürdigste. Denn die Erfahrung, wenn Sie selber engagiert sind, lehrt etwas ganz anderes. Wenn man dringend jemanden für eine ehrenamtliche Tätigkeit sucht, findet man ihn nicht, wenn man jemanden sucht, der noch gar nichts tut. Sie wissen, es ist genau umgekehrt: Man sucht am besten jemanden, der schon viel tut, dann macht er das vielleicht auch noch. Dies zeigt, dass es eine Frage der Einstellung und nicht einfach der Zeit ist, ob sich jemand engagiert.

„Die da oben machen ja doch, was sie wollen.“ Grundsätzlich ist diese Behauptung natürlich falsch. Politik ist verfassungsmäßig an Gesetze und Recht gebunden. Aber der Konflikt um Stuttgart 21 zum Beispiel hat – wie in einem Brennglas – gezeigt, dass trotzdem ein großer Teil der Bürgerschaft das Vertrauen in die Politik verloren hat. Viele Verfahren der Bürgerbeteiligung entsprechen nicht mehr den Anforderungen einer modernen, aufgeklärten und auch aufmüpfigen Zivilgesellschaft. Sie fühlt sich oft überfahren und nicht wirklich ernstgenommen. Und wenn ich mir die klassischen Planfeststellungsverfahren anschaue, dann sind sie doch sehr oft nach dem folgenden Schema verlaufen: Der Bürger macht eine Eingabe und dann bekommt er einen Bescheid. Und ich glaube, damit muss man brechen. Das meinen wir und das meine ich, wenn ich von der „Politik des Gehörtwerdens“ spreche. Worum geht es dabei? Die Bringschuld der Institutionen setzt sich aus Transparenz und Offenheit zusammen. Transparenz ist, dass wir die Dinge überschaubar machen, aber Offenheit heißt nochmal mehr. Offen heißt, offen sein für Alternativen. Der Vertrauensbruch findet immer dann statt, wenn die Bürgerschaft den Eindruck hat, hinter den Kulissen sei schon alles entschieden. Und wenn dieser Vertrauensbruch erst mal da ist, ist er ganz schwer zu kitten. Und deswegen ist diese Offenheit die Bringschuld der Institutionen.

Die Bringschuld der Zivilgesellschaft in solchen Konflikten ist, dass sie den Streit zivilisiert, gewaltfrei und ohne Fanatismus führt. Ich sage, nur wenn beide Seiten dies einbringen, dann ist der Bürgergesellschaft überhaupt gedient. Ansonsten wird sie scheitern.

Damit wird auch hier die Sinnfrage klar: Es geht um Alternativen in der Demokratie. Es geht um offene Diskussionen auf Augenhöhe. Es geht um qualifizierte Urteile und Interessensabwägung. Das alles muss in diesen neuen Formaten, die wir versuchen zu entwickeln, geschehen.

Aber schließlich muss auch eine Entscheidung fallen, auch dies muss allen klar sein. Und diejenigen, die entscheiden, sind natürlich die gewählten Organe: Gemeinderat, Landtag, Bundestag oder bei direkter Demokratie das Volk selbst. Wie das nun bei Stuttgart 21 der Fall war. Und auch hier muss uns allen klar sein: Es entscheidet die Mehrheit und nicht die Wahrheit!

Alles andere wäre ein großes Missverständnis. Die Minderheit muss also nicht das Gefühl haben, sie habe Unrecht oder es sei nicht wahr, wofür sie sich einsetzt. Es sind einfach Mehrheiten. Und die Mehrheit kann genauso irren wie die Minderheit. Und die Narren von heute können die Helden von morgen sein, aber sie können natürlich auch die Obernarren von morgen sein; das ist nicht immer ganz so im Voraus zu sagen.

Dieser Aspekt ist ganz wichtig, sonst können wir solche Urteile innerlich nicht akzeptieren. Das ist aber erforderlich, sonst haben sie keine friedensstiftende Wirkung.

Nochmals: Es entscheiden Mehrheiten, nicht Wahrheiten. Und der Grund dafür ist einfach: Was Besseres hat noch niemand erfunden. Nicht, weil das Mehrheitsprinzip so ein tolles Prinzip wäre. Sondern weil noch niemand etwas Anderes und Besseres erfunden hat. Denn würden nicht Mehrheiten entscheiden, würden Minderheiten entscheiden, und dann hätten wir eine Diktatur und keine Demokratie mehr. Auch, wenn das Experten-Minderheiten sind. Das muss also allen klar sein, sonst wird das alles unerträglich.

Das heißt, die „Politik des Gehörtwerdens“ heißt nicht, dass man immer erhört wird. Das ist ein gewisses Missverständnis. Aber es heißt, dass man jedenfalls nicht überhört wird. Denken Sie an so etwas wie rechtliches Gehör bei Gericht. Damit die Minderheit Mehrheitsentscheidungen ertragen kann, haben wir eine Verfassungsordnung und einen Rechtsstaat. Über die wichtigsten Dinge kann die Mehrheit überhaupt nicht entscheiden. Über die Menschenwürde, über die Grundrechte, über die Prinzipien der Demokratie, die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, das Sozialstaatsprinzip – vieles andere. Darüber ist entschieden, und darüber können Mehrheiten nicht einfach entscheiden. Für alles andere gibt es hohe Hürden in der Verfassung, und alles weitere darunter geht eben nur mit Mehrheiten.

Die da oben können also nicht tun, was sie wollen. Umso wichtiger ist, dass sich Bürgerinnen und Bürger einmischen. Und sich einmischen macht Sinn. Es ändert etwas, selbst wenn man verliert. Das hat der Konflikt um Stuttgart 21 gezeigt. Selbst diejenigen, die verloren haben – ich persönlich – haben doch erreicht, dass wir in Zukunft solche Großprojekte etwas anders planen und anders mit den Bürgern umgehen, als wir es bisher gemacht haben. Das ist schon ein großer Gewinn, auch wenn man in der Sache verloren hat. Aber Spaß macht es natürlich nicht, zu verlieren.

Nur so erfolgen Korrekturen bei großen Fehlentwicklungen. Wenn man sich dem Engagement entzieht, weil man glaubt, dass die da oben doch genau das machen, was sie wollen, ist das eine self-fulfilling prophecy, eine selbsterfüllende Prophezeiung. Die geht gerade deswegen in Erfüllung, weil man sich eben nicht engagiert. Wenn man sich engagiert, verhindert man das nämlich gerade. Deshalb kann man sagen, dass nur dort Demokratien stabil sind, wo eine wache und engagierte Zivilgesellschaft die Freiheit hat und sie durch Engagement auch wahrnimmt, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen. Und deswegen besteht für die Demokratie keine Gefahr durch Protestgruppen, Wutbürger und Neinsagern, wie oft gesagt wird. Gefahr für die Demokratie besteht immer erst dann, wenn sich Leute den öffentlichen Angelegenheiten entziehen und wenn sie gleichgültig werden. Dann besteht Gefahr für die Demokratie.

Was also dieser eingangs genannte Politikwissenschaftler über Gesangsvereine herausgefunden hat, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Je lebendiger die Bürgergesellschaft, desto besser für ein Gemeinwesen, desto stabiler auch die Demokratie.

Gemeinsinn ist eben nur dort möglich, wo man sich tatsächlich als Gemeinwesen empfindet. Das versteht sich nämlich nicht von selbst. Und Werte wie Solidarität und Hilfsbereitschaft lassen sich nicht einfach „von oben herab“ verordnen und bestimmen. Eine gute Gesellschaftsordnung, ein gelingendes Zusammenleben muss vielmehr von unten wachsen.

Aktualität der katholischen Soziallehre

Das kommt sehr prägnant in einem zentralen Grundsatz der Katholischen Soziallehre zum Ausdruck. Diesen Grundsatz der Katholischen Soziallehre wenden wir heute auf die ganze Politik an. Es ist das Subsidiaritätsprinzip.

Es heißt in etwa, dass die höhere Ebene nur dann und insoweit Verantwortung übernehmen soll, als andere, untergeordnete Ebenen nicht in der Lage sind, eine bestimmte Aufgabe ebenso gut zu erfüllen.

Das heißt, die Gesellschaft wächst von unten nach oben und wir geben nur das nach oben weiter, was unten nicht gut und sachgerecht erfüllt werden kann. Das ist das berühmte Subsidiaritätsprinzip.

Und wenn ich mir eine kleine Spitze erlauben darf: Das Problem ist, dass die katholische Kirche das leider nur als Exportartikel betrachtet. Aber das sehen sicher manche anders.

Vornehmliche Aufgabe des Staates ist es in diesem Verständnis, Freiheit und Verantwortung der unteren Ebene zu ermöglichen – von der kommunalen Selbstverwaltung über den Föderalismus bis hin zu den verschiedensten Gemeinschaften, die wir haben.

Das wird überall im Land ganz lebendig wahrgenommen. Was wir dabei herausbekommen, können wir oft ganz konkret vor Ort erfahren. Ich nehme mal ein Beispiel heraus: den Genossenschaftsgedanken.

Es ist erstaunlich gewesen, dass unsere Genossenschaftsbanken durch die Finanzkrise bestens durchgekommen sind. Genossenschaftsbanken, wo tausende von Bürgern bis zu einem bestimmten Tag Anteile zeichnen dürfen, damit niemand zu viel bestimmt. Diese Genossenschaften sind hervorragend durch die Finanzkrise gekommen.

Man sieht also, dass das ein altes bewährtes Modell und eine gute Wirtschaftsform ist. Dieses Kernprinzip der Genossenschaft ist demokratisch und subsidiär. Und jetzt passiert etwas ganz Spannendes: Bei der Energiewende, der großen Herausforderung, vor der wir stehen, stellen wir fest, dass auf einmal Energiegenossenschaften wie Pilze aus dem Boden schießen.

Um die 40 Energiegenossenschaften wurden allein im vergangenen Jahr in Baden- Württemberg neu gegründet. Das ist ein ganz lebendiger Beweis. Sie machen alles möglich von Windrädern über Solarstrom bis hin zu den kommunalen Nahwärmenetzen. Das sind ganz entscheidende Engagements von Bürgern, die die Sache einfach selber in die Hand nehmen und nicht auf irgendjemanden warten. Dagegen sehen wir oft, dass internationale Konferenzen, etwa in der Umweltpolitik, wenige Fortschritte erbringen. Umso wichtiger ist hier die Rolle der Zivilgesellschaft. Aber nicht nur für Staat und Politik, wir sehen es heute, auch für die Wirtschaft. Verbraucherinnen und Verbraucher fragen vermehrt nach nachhaltig erzeugten Produkten.

So erklärt sich nicht zuletzt der zunehmende, auch ökonomische, Erfolg von Waren mit dem Fair-Trade-Siegel. Dieses pocht auf fairen Handel. Etwa bei Kaffee hat es schon einen Marktanteil von 60 Prozent. Daran sehen Sie, dass die Bürger heute auch im Bereich der Wirtschaft wach werden und diese Bereiche ökologisch beeinflussen.

Die Zivilgesellschaft wirkt sich also auch auf den Markt aus, nicht nur auf die Politik. Also was ist der Sinn der Bürgergesellschaft?

Sie sehen es an den Beispielen, es ist ein fundamentaler. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger impft sozusagen Werte und damit Sinn in die Gesellschaft ein. Wie zum Beispiel die Nachhaltigkeit oder die Besorgnis, dass eine gute soziale Temperatur in einem Land herrscht.

Dazu muss man als Bürger natürlich immer mehr als die eigenen Interessen oder Betroffenheiten einbringen. Und nicht dem Irrglauben erliegen, dass das, was mir persönlich gerecht erscheint, schon gerecht ist. Die Menschen sind verschieden. Und jeder hat andere Vorstellungen. Die Frage nach dem Ganzen und dem Gemeinwohl ist die regulative Idee des Strebens nach Gerechtigkeit in einer großen Gemeinschaft.

Wenn wir nicht mehr nach dem Ganzen fragen, sondern nur noch Interessen ausgleichen, dann kommen wir auf eine schiefe Ebene. Ich kann Ihnen das zum Beispiel am Beispiel der Haushaltssanierung erläutern. Diese ist im Prinzip entschieden und die Schuldenbremse steht in unserer Verfassung. Das Land Baden-Württemberg darf, wie alle anderen auch, ab dem Jahr 2020 keine neuen Schulden mehr machen.

Dann stellt man fest: Für das Sparen sind alle im Allgemeinen, und für die Freigebigkeit im Besonderen, wenn es nämlich um ihre eigenen Interessen geht. Alle wollen sie sparen, aber in der Regel bei den anderen.

Wenn ich mit dieser nicht sehr schönen Botschaft vom Sparen durch das Land reise, höre ich trotzdem überall nur mehr Wünsche. Egal wohin ich komme. Mal nach mehr Straßen, mal nach mehr Mitteln für die Forschung – was Sie auch nehmen. Überall stoße ich auf mehr Wünsche und man ist sich natürlich schnell über die Prioritäten einig – wie zum Beispiel Bildung – aber leider nicht über die Posterioritäten. Nämlich dort, wo dann gestrichen werden soll. Da hört die Einigkeit in der Regel schnell auf. Das zeigt: Wenn ich nur nach dem Interessenausgleich gehe und alle nur mehr wollen und niemand weniger, kann ich keinen Haushalt sanieren. Da käme bestenfalls heraus, dass ich nicht so viel ausgebe wie bisher. Aber es würde auf jeden Fall klar werden, was ich machen muss: einsparen. Und von Sparen kann ja keine Rede sein. Sparen bedeutet ja, dass man etwas auf die Seite legt, wenn man zu viel hat. Wenn wir allerdings vom Sparen reden, meinen wir, dass wir nicht so viel von dem Geld ausgeben wollen, das wir ohnehin nicht haben.

Sie sehen, man braucht in einer solchen Diskussion Maßstäbe. Und dieser Maßstab kann nur das Ganze sein. Das Ganze sagt uns – das sehen wir ja an der Staatsschuldenkrise und an der Eurokrise – dass es so nicht weitergehen kann. Es wird erstens deutlich, wenn wir uns mit anderen vergleichen, dass wir doch auf hohem Niveau jammern. Zweitens geht es nicht anders, als dass man Einschnitte macht. Die wird man spüren und die werden wehtun.

Diese Aspekte sind ganz wichtig und es gibt vieler solcher Beispiele, bei denen es immer um die Frage geht: Ist mein Interesse, das meines Ortes oder meiner Region auch das Interesse des Ganzen? Es ist ganz entscheidend, dass wir das, was wir einbringen, auch immer daran messen.

Damit komme ich nochmal zu einer entscheidenden Frage. Nehmen wir das Beispiel Haushalt und damit Geld, denn bei dem hört ja bekanntlich der Spaß auf. Die Schweizer Philosophin Jeanne Hersch hat folgendes gesagt: Jeder Sinn, der Sinn überhaupt, die Möglichkeit eines Sinnes setzt immer einen Mangel voraus. Ohne Mangel gäbe es nur die Verstopfung des seelischen Raumes durch das faktische Vorhandensein. Tatsachen an sich haben nie einen Sinn, sie sind nur da, und man muss sie in Kauf nehmen, ob es uns gefällt oder nicht. Erst durch die Art und Weise, wie wir sie in Kauf nehmen, sie deuten oder sie verarbeiten, werden sie für uns und durch uns einen Sinn bekommen. Den Sinn finden wir nie vor, wir sind für ihn verantwortlich, denn Sinn gibt es nur für freie Wesen, nur für Freiheit in uns selbst. Das Wort Sinn verstehen wir überhaupt nur mit dem Organ unserer Freiheit.“ Und weiter sagt sie: „Der Sinn für den Sinn ist nur dann lebendig, wenn tatsächlich etwas auf dem Spiel steht. Der Sinn ist also etwas ganz anderes als Glück.“

Ich bin davon überzeugt, dass wenn man die notwendigen sieben Prozent des Haushalts einspart und es einigermaßen klug und ordentlich macht – und das haben wir natürlich vor –, dass das kollektive Glücksempfinden der baden-württembergischen Bevölkerung danach nicht messbar geringer ist. Aber glücklich macht eine Haushaltssanierung natürlich nicht, und auch keinen Spaß. Aber es macht Sinn, das zeigt uns die gegenwärtige Krise.

Jetzt stellt sich natürlich nochmal die Frage, worin der Sinn für die Bürgerin und den Bürger selbst liegt. Dass es für die Gesellschaft Sinn macht, habe ich zeigen können. Nun, ganz einfach: Man kann viel erreichen, wenn man sich engagiert! Seit ich Ministerpräsident bin, erfahre ich noch deutlicher als zuvor, dass bei den meisten Menschen ein gänzlich falscher Begriff von politischer Macht in den Köpfen steckt. Sie setzen politische Macht mit einem hohen Amt gleich. Das ist aber ein weitverbreiteter Irrtum.

Sicher habe ich im Rahmen meiner Amtsbefugnisse Macht. Aber warum? Und wie ist sie eigentlich beschaffen?

Macht, die wirklich nachhaltig etwas bewirken will in der Demokratie, bedarf der Zustimmung von Mehrheiten. Großer Mehrheiten. Denken Sie nur an die Gründungssituation unserer Verfassung. Auch jetzt muss ich mich ständig abstimmen: mit meinem Koalitionspartner, mit den Regierungsfraktionen, mit 15 anderen Ländern im Bundesrat, mit der Bundesregierung und so weiter und so fort. Vor allem auch täglich mit Juristen, die mir sagen, ob bestimmte Maßnahmen mit europäischen Regelungen, mit Verfassungsgrundsätzen der Landeshaushaltordnung oder was auch immer, so vereinbar sind.

Was heißt also Macht und wie entsteht sie? Macht entsteht überhaupt nur dadurch, dass Menschen sich hinter einer gemeinsamen Idee versammeln. Nur, wenn dies geschieht, kann Macht überhaupt ausgeübt werden. Und nicht schon, weil man ein hohes Amt innehat. Wenn sich Menschen hinter einer Idee versammeln und versuchen, diese Idee in die Praxis umzusetzen, dann haben sie politische Macht und üben sie aus.

Und deswegen kann jeder, der sich zusammen mit anderen für oder gegen etwas engagiert, viel bewirken. Jeder, weil eben jeder Mensch anders ist. Und weil jeder Mensch anders ist, kann jeder Mensch etwas Neues einbringen, das noch keiner vor ihm so erdacht hat. In den Zusammenhängen liegen die Besonderheiten, da jeder auf besondere Weise kreativ ist. Allerdings nicht allein. Nur zusammen mit anderen kann man etwas bewirken.

Mehr Bürgergesellschaft wagen – auf jeden Einzelnen kommt es an

Auch die Verwirklichung großer Ziele wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung beginnt immer mit dem Engagement von Menschen vor Ort. Für uns Christen ist das übrigens keine neue politikwissenschaftliche Erkenntnis, es ist eine alte biblische Weisheit.

Jesus zum Beispiel vergleicht das Reich Gottes mit einem Senfkorn. Er sagt, es ist das kleinste von allen Samenkörnern. Wenn es aber aufgeht, „wird es größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“ (Mk 4,30-32)

Oder er vergleicht es mit einem Sauerteig, „den eine Frau unter einen großen Trog Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war.“ (LK, 13, 20-21)

Weiter könnte ich hier auch die Gleichnisse vom Licht, das man nicht unter den Scheffel stellen soll, oder das Gleichnis vom Salz der Erde, anführen. Wir Christen wissen doch eigentlich schon immer, dass man mit kleinen Schritten die Welt verändern kann.

Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar: Es ist nur ein Gebot“, schreibt Papst Benedikt in seiner Enzyklika „Deus Caritas Est“. Und die Frage nach Gott ist doch immer die Frage nach dem Sinn des Ganzen. Über unserem Tun, über unseren beschränkten Möglichkeiten und natürlich auch über den Tod hinaus. Aber praktisch kann dieser Sinn nur mit tätigem Engagement für die anderen und die Gemeinschaft werden. Und das meint Erich Kästner, wenn er sagt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Katholiken nehmen das „Ganze“ durchaus wörtlich, denn das heißt ja „katholisch“. Wir sind für die ganze Welt da und nicht einfach für uns. Alles andere wäre ein Missverständnis des Christentums. Das Wort „ökumenisch“ bedeutet übrigens genau das Gleiche.

Auch wenn unser Engagement lokal ist und vor Ort beginnt; in Vereinen, Initiativen, wo auch immer – es geht immer ums Ganze. Und deswegen macht es einen Sinn. Diejenigen, die sich nicht engagieren, weil sie glauben, man könne nichts bewirken, müssen wir also durch eigenes Tun überzeugen, dass dem nicht so ist. Sondern dass man viel bewirken kann, wenn man sich mit anderen um eine Idee – oder einen Wert, wie man heute sagt – schart. Manchmal kann man sogar Wunder bewirken. Denken Sie an den Fall der Mauer. Mit allem hat die SED gerechnet; aber nicht, dass Menschen mit Kerzen aus Kirchen kommen. Damit hat sie nicht gerechnet. Und das, dieses Engagement, hat ein unglaubliches Wunder bewirkt: nämlich den Fall der Mauer und die Zerstörung des Eisernen Vorhangs.

Man muss natürlich einen langen Atem haben und dicke Bretter bohren. Man muss auch Kompromisse beschließen können.

Allerdings können wir nicht alles bewirken. Auch diese Auffassung kann Sinn zerstören. Sie endet leicht in Fanatismus, Verblendung und Gewalt oder im Sektierertum. Oder ebenfalls in Resignation.

Dies habe ich oft bei Menschen, die nicht zur Wahl gehen, erlebt. Sie sind oft der Ansicht, die Parteien seien alle gleich und tun nichts für die kleinen Leute, die Wirtschaft, die Rentner, die Jugendlichen – je nachdem, zu welcher Gruppe sie gehören.

Wenn man mit ihnen diskutiert, stellt man fest, dass sie in der Regel unerfüllbare Ansprüche an die Politik stellen. Und deswegen erscheinen ihnen die Unterschiede zwischen den Parteien so vernachlässigbar. Es sind sozusagen Allmachtsfantasien. Aber wir als Christen sollten wissen, dass es kein irdisches Paradies gibt. Daraus sind wir vertrieben worden. Es gibt auch kein Bürgerparadies, sondern bestenfalls eine Bürgergesellschaft.

Unsere Gesellschaft bietet auf allen Ebenen unzählige Möglichkeiten, sich zu engagieren. Alles ist möglich. Vor zwei Tagen habe ich gelesen, dass selbst die Nichtgläubigen im Osten sich massenhaft gegen den Verfall ihrer Kirchengebäude engagieren.

Auch im Internet können Sie sich beliebig global engagieren. Zum Beispiel für den Erhalt des Regenwaldes, obwohl Sie dort noch nie waren, ihn nicht kennen und ihn noch nie gesehen haben.

Das alles macht Sinn. Aber eben nur, wenn man sowohl die eigenen Grenzen als auch die der Gesellschaft sieht.

Als ich ein junger Grüner war, vor über 30 Jahren, dachte ich, ich muss die Welt retten. Bis ich gemerkt habe, dass ich mich damit gehörig übernehme. Ich kann die Welt nicht retten, es ist Seine Welt. Er hat sie geschaffen und Er hat uns versprochen, dass sie vor dem Ende der Zeiten nicht untergeht. Und nur in solch einem Grundvertrauen, das ich aus meinem Glauben bekomme, bin ich frei und motiviert, mich mit meinen bescheidenen – und jetzt etwas größeren – Möglichkeiten, einzusetzen und mich zu engagieren in der Welt. Ein schönes jüdisches Sprichwort sagt: „Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“

Was also ist der Sinn der Bürgergesellschaft?

Ich darf nochmals Jeanne Hersch zitieren: „Viele aufrichtige Demokraten hegen den Wunsch, dass ihr Land auf irgendeinem Wege – meistens durch die Schule – eine entsprechende Lehre verbreite. Die einen möchten das Regime in einem christlichen Credo verwurzelt sehen; andere in einer rationalen Weltordnung, die etwa der Aufklärung entstammen könnte und die sie für wissenschaftlich begründet halten; wieder andere in den ethischen Regeln eines staatlich anerkannten Moralismus. Nun besteht in meinen Augen“, sagt sie, „die echteste Rechtfertigung der Demokratie gerade darin, dass sie nichts Derartiges ihren Bürgern aufdrängt. Sie bemüht sich vielmehr, für jedes menschliche Wesen einen Leerraum zu wahren, der ihm erlaubt zu denken, zu glauben, zu hoffen und zu handeln, wie es ihm sein inneres Gewissen eingibt. Es ist dann jedes Bürgers Pflicht, in seiner Zeit, in seiner Welt, in seiner konkreten geschichtlichen Situation als verantwortliches „Ich“ gegenwärtig zu sein. Keine Lehre, keine Regeln können diesen ‚acte de présence‘“, dieses ‚Hier bin ich‘, „ersetzen, das allein fähig ist, die durch die Demokratie geschützte Leere mit menschlicher Substanz zu füllen.“

Dies bringt meiner Ansicht nach auf den Punkt, was der Sinn der Bürgergesellschaft ist, weil, so Jeanne Hersch, die Demokratie im Kern von der Achtung vor dem größten menschlichen Geheimnis lebt: der Freiheit des Einzelnen.

Dankeschön.

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