Interview

"Um zu bewahren, muss man auch verändern"

Portätfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Garten der Villa Reitzenstein.

Winfried Kretschmann wurde vom Magazin "Politik und Kommunikation" (p&k) als "Politiker des Jahres" ausgezeichnet. Im Interview spricht der baden-württembergische Ministerpräsident über Demokratie, Insignien der Macht und seine Sympathie für die Occupy-Bewegung.

p&k: Herr Ministerpräsident, Sie sind seit rund sieben Monaten baden-württembergischer Regierungschef. Haben Sie sich schon an die Insignien der Macht gewöhnt? Den spritschluckenden Dienstwagen Ihres Amtsvorgängers beispielsweise.

Kretschmann: Ob es im 21. Jahrhundert wirklich ein Insignium der Macht ist, eine schwere Limousine zu fahren, das will ich einmal bezweifeln. Im Übrigen: Mittlerweile habe ich ein Fahrzeug, das  wesentlich weniger Sprit verbraucht. Natürlich ist es gepanzert und daher ziemlich schwer. Aber es ist umweltfreundlicher als das Vorgängermodell.

p&k: Sie sind einen weiten politischen Weg gegangen: vom späten Achtundsechziger bis zum Ministerpräsidenten. Würde der Kretschmann der 70er Jahre den heutigen Kretschmann als zu bürgerlich kritisieren?

Kretschmann: Das glaube ich nicht. Nachdem ich meine linksradikale Vergangenheit hinter mir gelassen habe, war meine weitere politische Entwicklung nicht mehr so kurvenreich. Und was meine Werteorientierung angeht, meine Grundauffassungen, da habe ich seit vielen Jahren ein klares und festes Gerüst.

p&k: Sind Sie ein Wertkonservativer?

Kretschmann: Wer mich so beschreibt, der denkt in Klischees. Natürlich habe ich meine konservativen Ecken. Und auch eines der wichtigsten Ziele der Grünen ist konservativ: die Schöpfung zu bewahren. Aber ich würde mich eher als Liberalen bezeichnen. Und selbst mit der Nachhaltigkeit ist es doch so: Um etwas bewahren zu können, muss man Dinge auch verändern. Zum Beispiel das aktuelle Wirtschaftssystem.

p&k: Ist Ihnen die „Occupy“-Bewegung sympathisch?

Kretschmann: Durchaus. Die Finanzmärkte haben eine dienende Funktion gegenüber der Realwirtschaft. Sie daran zu erinnern, und zwar heftig und klar, das ist richtig.

p&k: Sie engagieren sich in der katholischen Kirche, deren Papst anmahnt, dass der Mensch nicht zum Diener des Kapitals werden dürfe. Wurzelt Ihre Sympathie für die „Occupy“-Bewegung im Glauben?

Kretschmann: Die soziale oder sozialökologische Marktwirtschaft ist natürlich durch das christliche Gedankengut imprägniert. Die Nächstenliebe ist – neben der Gottesliebe – das wichtigste Gebot. Mit dem Subsidiaritätsgedanken hat die Kirche der Welt außerdem ein wunderbares Geschenk gemacht. Bedauerlich ist, dass sie es nur als Exportartikel betrachtet. In den eigenen Reihen wird es nicht wirklich angewendet.

p&k: Der Konflikt um „Stuttgart 21“ war einer der Gründe für Ihren Wahlsieg Ende März, doch müssen Sie als Ministerpräsident nun für die Umsetzung des Projekts sorgen. Haben Sie keine Angst, dass Sie Ihre Wähler verprellen werden?

Kretschmann: Das Volk hat gesprochen – und zwar in einer direkten Abstimmung. Mehr Demokratie geht einfach nicht. Deswegen muss jeder Demokrat das akzeptieren. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen: In einer Demokratie entscheidet am Ende immer die Mehrheit – und nicht die Wahrheit. Und das ist gut so.

p&k: Werden Sie Wasserwerfer einsetzen, wenn die „S21“-Gegner auch weiterhin gegen das Bauprojekt demonstrieren?

Kretschmann: Ich bin qua Amt dazu verpflichtet, Recht zu wahren – dazu gehört auch das Baurecht. Aber dazu gehört auch das Demonstrationsrecht. Um dort eine ausgewogene Balance zu finden, orientiere ich mich an der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Diese muss man beachten. Aber mir ist auch klar: Letztlich bleibt das ein Dilemma, das ich nie ganz lösen kann.

p&k: Was ist Ihr Fazit des Konflikts um „Stuttgart 21“?

Kretschmann: Diese Protestbewegung hat Deutschland einen großen Dienst getan. Sie ist in der Sache zwar gescheitert, in der gesamten Republik hat sie jedoch etwas angestoßen: In Zukunft werden solche Projekte nicht mehr von oben durchgedrückt. Die Bürgerschaft wird daran beteiligt. Von daher kann ich mit Überzeugung  sagen, dass diese Protestbewegung erfolgreich war.

p&k: Der Protest als Lehrstunde in Sachen Demokratie.

Kretschmann: Nicht nur das. Die Demonstrationen waren ein großer Schritt in Richtung Bürgergesellschaft. Wenn wir erreichen, dass die Zivilgesellschaft die gleichen Möglichkeiten hat, so auf Regierung und Parlament einzuwirken, wie es starke Interessenvertretungen und Lobbys schon immer getan haben, dann haben wir einen guten Job gemacht.

p&k: Sind Sie ein Befürworter von direkter Demokratie?

Kretschmann: Ja, denn es gibt keinen Grund, dem Volk zu verweigern, solche Entscheidungen wie „Stuttgart 21“ anzufechten. Genauso wichtig ist jedoch, neue Formate zu entwickeln, die es den Bürgern ermöglichen, sich an neuen Infrastrukturprojekten und ähnlichen strittigen Vorhaben zu beteiligen. Zum Schluss müssen natürlich immer gewählte Mehrheiten darüber abstimmen – oder eben das gesamte Volk.

p&k: Sie sind der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland. Wie haben die Mitarbeiter im Stuttgarter Staatsministerium, dieser alten CDU-Bastion, auf Sie reagiert?

Kretschmann: Im Staatsministerium arbeite ich mit einer hervorragenden Ministerialverwaltung zusammen. Das sind engagierte Beamte, die das machen, was sie sollen. Dazu gehört auch, einen Wechsel an der Spitze zu akzeptieren. Die Verwaltung folgt dem Demokratieprinzip. Das ist die Theorie – es ist erfreulich, das in der Praxis mitzuerleben.

p&k: Als p&k Sie Ende November mit dem Politikaward ausgezeichnet hat, hielt Thomas Schmid, der Herausgeber der Welt-Gruppe, die Laudatio. Schmid, der Sie gut kennt, sagte, dass er Ihren neuen Weg mit Sympathie verfolge, aber auch mit Sorge. Muss er das?

Kretschmann: Höchstens, wenn es um meine Gesundheit geht.

p&k: Spüren Sie bereits die Belastung durch das Amt?

Kretschmann: Es beansprucht einen mit einer Totalität, die ich so nicht erwartet habe. Jeder, der in so ein Amt gewählt wird, muss sich ganz gezielt Freiräume schaffen, sonst hält er das auf Dauer nicht durch.

p&k: Sehnen Sie sich womöglich nach der Oppositionsbank zurück?

Kretschmann: Nein, in keiner Weise. Unser Ziel in der Opposition war es ja, die Regierung abzulösen. Nach 30 Jahren haben wir das jetzt endlich geschafft.

p&k: Müssen Sie sich als Regierungschef oft verbiegen?

Kretschmann: Etwas biegen lassen muss ich mich schon. Jeder Halbsatz wird jetzt auf die Goldwaage gelegt. Ich kann also nicht mehr ganz so unbekümmert reden wie in der Opposition. Aber mich in meinem Alter verbiegen zu lassen? Nein.

p&k: Fühlen Sie sich inzwischen schon als Landesvater, oder ist das nicht die Rolle, in der Sie sich sehen?

Kretschmann: In den ersten drei Monaten habe ich mich gegen den Begriff gewehrt. Ich finde ihn so paternalistisch. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Es scheint ein Bedürfnis nach diesem Typ Politiker zu geben. Ich interpretiere das einfach so: In schweren Krisenzeiten wollen die Menschen jemanden haben, der besonnen und verlässlich ist.

p&k: Auf Bundesebene befinden sich die Grünen im Umfrage-Sinkflug, ihre Werte in Baden-Württemberg dagegen steigen.

Kretschmann: Das bekomme ich mit. Aber als Christ weiß ich, dass zwischen Hosianna und Kreuzigung nur drei Tage liegen.

Interview: Sebastian Lange, Johannes Altmeyer

Quelle:

Politik und Kommunikation
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