Interview

„Sport hat eine große gesellschaftliche Bindekraft“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Foto: dpa)

Im Interview mit den Stuttgarter Nachrichten spricht Ministerpräsident Winfried Kretschmann über sein Verhältnis zum Sport, internationale Großereignisse und die Doping-Problematik.

Guten Tag, Herr Kretschmann. Haben Sie heute schon Geist und Körper gestählt?

Winfried Kretschmann: Nein!

Keine Lust?

Kretschmann: Doch, schon. Aber ich habe eine heftige Erkältung hinter mir und den Frühsport deshalb ausfallen lassen. Ich fange jetzt langsam wieder an.

Womit genau?

Kretschmann: (Seufzt) Ich bin zwar fußballbegeistert, aber selbst nur mäßig begabt. Es geht bei mir mehr um die Fitness, die ich bewahren will.

Sie stemmen Eisen?

Kretschmann: Ich trainiere regelmäßig im Park der Villa Reitzenstein.

Zwanzigmal um die Staatskanzlei?

Kretschmann: Bisschen warmlaufen, Gymnastik, Liegestütze und alles Mögliche, was noch dazu gehört.

Jeden Morgen?

Kretschmann: Nein, nein! Ein-, zweimal in der Woche eine Dreiviertelstunde. Mit einem persönlichen Trainer. Da bin ich dann immer ordentlich durchgeschwitzt. Manchmal gehe ich auch noch ins Fitnessstudio bei mir zu Hause, das nur um die Ecke liegt.

Was war die Sportart Ihrer Jugend?

Kretschmann: Fußball. Ich war rechter Verteidiger. Damals war das System aber noch einfacher.

Manndeckung, und gut!

Kretschmann: Genau.

Wer war Ihr Idol?

Kretschmann: Uwe Seeler. Neulich habe ich ihn beim Länderspiel von Deutschland gegen Chile sogar getroffen.

Sind Sie in Ehrfurcht erstarrt?

Kretschmann: (Lacht) Nein, es war sehr herzlich. Es ist was sehr Schönes, wenn man sein Kindheitsidol, sei es auch im fortgeschrittenen Alter, trifft und mit ihm sprechen kann.

Wie verfolgen Sie den Sport?

Kretschmann: Ich lese Zeitung und schau auch mal bei den Olympischen Spielen rein. Und wenn es die Zeit erlaubt, lasse ich mir samstags die „Sportschau“ nicht entgehen.

Sport ist Teil unserer Alltagskultur, andererseits Profit-Center einer Unterhaltungs- und Freizeitindustrie. Wie empfinden Sie diese Ambivalenz?

Kretschmann: Sport ist integraler Bestandteil unserer Gesellschaft – und daraus nicht wegzudenken. Er gehört zu unserem Leben wie die Arbeit, die Kirchen, die Nachbarschaft. Zugleich stellt der Sport mittlerweile einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar – in der Vermarktung von Großveranstaltungen, in der Werbung, in der Bekleidungsindustrie. Natürlich gibt es im Zuge der Kommerzialisierung auch kritikwürdige Auswüchse. Doch im Kern ist der Sport nach wie vor gesund.

Sie denken an den Sport im Verein?

Kretschmann: Genau. Dort wird intensive und vorbildliche Arbeit geleistet.

Sport hat in der Vergangenheit eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Zu Recht?

Kretschmann: Eigentlich schon. Wir leben in einer friedlichen Gesellschaft, der diese Art des zivilen Kampfes in mancherlei Hinsicht nützt. Das ist etwas sehr Schönes, das zurückgeht bis in die Anfänge des Sports in der griechischen Antike. Sport ist nicht nur Spaß und Spiel und dient der Gesundheit des Menschen, er hat auch eine große gesellschaftliche Bindekraft. Nehmen Sie als Beispiel die Paralympics. Da wird Inklusion auf höchstem Niveau vorgeführt.

Können Sie nachvollziehen, dass der Sport manchen Menschen als Ersatzreligion dient?

Kretschmann: Jeder kann in einer freien Gesellschaft das zu seinem Lebensmittelpunkt erklären, was er möchte. Stellen Sie sich nur mal die Mercedes-Benz-Arena ohne die Cannstatter Kurve vor. Das Spiel und die Stimmung dort leben doch davon, dass es Jugendliche gibt, die sich zu hundert Prozent mit dem Club und mit ihrem Fan-Sein identifizieren.

Gelegentlich führt das zu gefährlichen Auswüchsen.

Kretschmann: Jede Subkultur überall auf der Welt kann in Fanatismus ausarten. Dann entsteht sofort ein Problem, oder dann, wenn Menschen mit ihren Leidenschaften und Überzeugungen instrumentalisiert werden. Gewaltfreiheit und Toleranz sind auch für den Sport unverzichtbare Voraussetzungen.

Etliche Länder fordern, die Fußballclubs an den Kosten der Polizeieinsätze zu beteiligen.

Kretschmann: In der Tat, diese Diskussion gibt es. Wir sind mit den Clubs ständig im Gespräch. Die Vereine sollen alles tun, um Auswüchse jeglicher Art rund ums Spiel nach Möglichkeit zu verhindern. Im Profifußball ist es ja schon besser geworden. Die Anstrengungen der Vereine, Fan-Initiativen, Kommunen und der Polizei haben Wirkung gezeigt. Mehr Probleme bereiten uns derzeit die Vereine in den Ligen darunter. Wir spielen da auf der ganzen Breite der Klaviatur. Aus Spiel und Spaß darf nicht Ärger und Verdruss werden.

Gibt es ethische Werte, die Sie aus dem Sport gern auf die Politik übertragen würden?

Kretschmann: Der Sport hat ein universales Regelwerk. Eine Abseitsfalle ist in Tuttlingen nichts anders als in Turkmenistan. Wir wären in der Politik froh, wenn wir diese international anerkannten Regeln, die überwacht und nötigenfalls sanktioniert werden, auch hätten. Ohne ein allgemeingültiges Regelwerk, das auch beachtet wird, funktioniert so gut wie nichts in der menschlichen Gesellschaft.

Als Ministerpräsident haben Sie sich bisher sehr zurückhaltend zu sportlichen Fragen geäußert. Haben Sie Berührungsängste?

Kretschmann: Nein, überhaupt nicht. Es hat mich bisher nur noch nie jemand um ein Interview zum Sport gebeten.

Das ist Ihr erstes?

Kretschmann: Ja.

Man sagt den Grünen nach, dass sie mit der traditionellen Vereinskultur eher wenig anzufangen wissen.

Kretschmann: Das ist eher ein Vorurteil. Der erste Verein, dem ich 1968 beigetreten bin, war der Schützenverein Laiz. Vergessen Sie nicht: Die Vereine sind ja ein Produkt der Revolution von 1848. Das war eine große Bewegung der Volksorganisation der Bürgerschaft gegen die Obrigkeit. Das passt doch eigentlich gut zu den Grünen.

Neulich feierte die Sportwelt in Tauberbischofsheim den 60. Geburtstag des neuen IOC-Präsidenten Thomas Bach. Die grün-rote Landesregierung glänzte durch Abwesenheit.

Kretschmann: Als Ministerpräsident hat man eben sehr viele Termine, da gibt es auch mal Terminkollisionen. Das kommt schon mal vor. Daraus aber eine sportkritische Legende zu stricken, ist verfehlt. Ich habe Thomas Bach anlässlich der DOSB-Mitgliederversammlung 2012 in Stuttgart im Übrigen getroffen und gesprochen. Die Landesregierung hat im Rahmen der Mitgliederversammlung einen Empfang gegeben.

Ist der Sport auch für Sie ein weicher Standortfaktor?

Kretschmann: Kein Zweifel. Das darf man nicht unterschätzen. Zumal junge Familien mit Kindern heute von den Gemeinden stark umworben sind. Ein vielfältiges Freizeitangebot in Sport und Kultur wird genauso erwartet wie eine gute Schulinfrastruktur.

Welche Handlungsmaximen leiten Sie aus dieser Erkenntnis für Ihre Politik ab?

Kretschmann: Erst mal ist es wichtig, dass der Schulsport gut gepflegt wird und dass wir genügend Möglichkeiten für den Breitensport bieten.

Das klingt sehr bescheiden. Im internationalen Ansehen hat das Sport-Land Baden-Württemberg spätestens nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 an Strahlkraft dramatisch eingebüßt.

Kretschmann: Zunächst einmal strahlen Athleten und Vereine. Und was die Großveranstaltungen anbetrifft, muss man sehen, dass sich auch hier der Wettbewerb globalisiert hat. Das ist nicht zu ändern. Es sind nicht mehr nur die starken Industrieländer, die sich um solche Ereignisse bewerben. Das Stadion des VfB Stuttgart wurde doch auch deshalb zum reinen Fußballstadion umgebaut, weil abzusehen war, dass es große Leichtathletik-Ereignisse nur noch sehr, sehr selten in Stuttgart geben wird . . .

. . . es gibt ja nicht nur die Leichtathletik.

Kretschmann: Das stimmt. Aber es ist ja auch nicht so, dass es im Land nichts mehr gibt. Es gibt das Maimarkt-Turnier im Reiten, Mercedes- und Porsche-Cup im Tennis, das Hochsprung-Meeting in Eberstadt, neulich lief der Gymnastik-Weltcup in Stuttgart. . .

Wie hilft die Politik, um im weltweiten Event-Wettbewerb einen Fuß in die Tür zu bekommen? Stuttgart und die Region, aber auch das Land haben sich aus diesem Rennen verabschiedet. Es fehlt ein Masterplan.

Kretschmann: Das sehe ich nicht so. Die Infrastruktur ist im Kern da. Alles andere muss man an Land ziehen. Masterplan? Das klingt so erhaben. Aber wie soll der aussehen? Wir müssten riesige Summen in die Hand nehmen. Und das in Zeiten der Haushaltssanierung. Es gibt eben auch noch andere Dinge als den Sport.

Wir können uns Weltereignisse demnach nicht mehr leisten?

Kretschmann: Ich sehe mit Skepsis, dass der Aufwand für derlei Großveranstaltungen immer gigantischer wird. Da fehlt mir die vernünftige Relation zwischen Aufwand und Nutzen. Nehmen Sie nur die astronomischen Ablösesummen für internationale Fußballstars, das nimmt doch teilweise absurde Züge an. Ein Stück weit beobachten wir das ja auch in der Bundesliga: Wenn Vereine wie der FC Bayern so weit weg von den Konkurrenten sind wie derzeit, dann fängt die Liga an, langweilig zu werden.

Das alte Problem im Land ist: Wir sind top im Nachwuchsbereich, verlieren die Besten aber im Aktivenalter, weil sie anderswo bessere Bedingungen vorfinden. Lässt Sie das kalt?

Kretschmann: Zunächst einmal bin ich stolz, dass wir so viele talentierte Nachwuchssportler haben. Natürlich würden wir sie auch gern im Land behalten. Auch aus diesem Grund arbeitet der Landessportverband zurzeit mit Unterstützung unseres Sportressorts an einer neu ausgerichteten Leistungssportkonzeption. Doch solange Jürgen Klinsmann schwäbelt und ,die, wo‘ sagt, erkennt ihn jeder als Baden-Württemberger. Und sonst ist es doch gar nicht so schlecht. Wir sind nun mal ein Exportland – auch im Sport.

Warum tut sich der Sport im Land so schwer, die Wirtschaft für seine Zwecke zu begeistern?

Kretschmann: Laut einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums ist jedes dritte Unternehmen irgendwie im Sport engagiert. Trotzdem muss man sehen: Die meisten befinden sich in einem harten globalen Wettbewerb. Da überlegt man jede Freiwilligkeitsleistung, jedes Sponsoring sehr genau. Andererseits zeigt sich während der aktuellen Misere beim VfB Stuttgart, wie wichtig es ist, so einen Top-Verein in der Region zu haben. Auch für Freiburg und Hoffenheim ist es ungemein wichtig, einen Verein in der Bundesliga zu haben. Die Bedeutung wird vielleicht ein bisschen unterschätzt.

Schafft der VfB Stuttgart den Klassenverbleib?

Kretschmann: Ich habe mir in den vergangenen Wochen zwei Spiele angeschaut, die wir beide verloren haben. In Hoffenheim und daheim gegen Berlin. Man muss zu seinem Verein stehen. Gerade in schweren Zeiten. Jetzt gab es leider in Nürnberg wieder einen schmerzhaften Dämpfer, noch dazu gegen einen direkten Abstiegskonkurrenten. Ich bin dennoch einigermaßen zuversichtlich, dass es der VfB noch schafft. Heute gegen Dortmund müssen die Punkte in Stuttgart bleiben.

Im Koalitionsvertrag steht, die grün-rote Landesregierung wolle die Wirtschaft ermuntern, den Sport stärker zu unterstützen. Passiert ist bisher nichts.

Kretschmann: Das stimmt so nicht. Der Landessportverband hat zusammen mit dem Wirtschaftsministerium das Rahmenkonzept Partnerbetriebe des Spitzensports entwickelt. Hier werden Betriebe ausgezeichnet, die Spitzensportlern einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bieten, der es ihnen ermöglicht, Ausbildung und Beruf mit den Erfordernissen des Leistungssports zu vereinbaren. Das machen wir ganz gezielt. Aber auch in anderen Bereichen engagiert sich die Landesregierung stark. Durch den Solidarpakt Sport haben wir die Mittel für den Breitensport im Zeitraum von 2011 bis 2016 um 20 Millionen Euro erhöht.

Die Realität sieht weniger freundlich aus. Professoren weigern sich bisweilen, Klausuren wegen einer WM zu verschieben.

Kretschmann: Ich gehe mal davon aus, dass das Ausnahmen sind. Wir wollen gute Leistungen. Wir müssen dem Spitzensport helfen, wo es nur geht.

Mancher Spitzensportler hilft sich selbst – mit Dopingmitteln. Baden-Württemberg hat eine vielbeachtete Initiative für ein Anti-Doping-Gesetz eingebracht. Ein aktueller Vorschlag aus Bayern geht noch weiter.

Kretschmann: Wir wissen, wie die Bayern denken – man muss die Dinge ja nicht gleich übertreiben. Wir gehen aber davon aus, dass der Sport in dieser Frage eine Eigenverantwortung hat und wir nur den ordnungspolitischen Rahmen schaffen, um Doping im Profisport strafrechtlich als Betrug in einem wirtschaftlichen Wettbewerb ahnden zu können.

Übernimmt sich die Politik?

Kretschmann: Die Gefahr besteht. Sauberer Sport ist in erster Linie die Aufgabe der Verbände. Erst auf einer höheren Ebene sollte der Staat eingreifen. Wir müssen bedenken: Wenn wir Gesetze erlassen, müssen wir auch das Personal bereitstellen, um sie zu überwachen.

Ist der Spitzensport für Sie als Zuschauer noch ein ungetrübter Genuss?

Kretschmann: Es kommt auf die Sportart an. Klar ist auf jeden Fall: Doping ist kein Kavaliersdelikt, es macht den Sport kaputt. Die Tour de France habe ich mir – wie viele andere – in den letzten Jahren nicht mehr angeschaut.

Nicht nur hier stößt der Sport an seine Grenzen – auch als Mittel der Politik. Wo sehen Sie die Grenzen?

Kretschmann: Sport ist ein Bestandteil unserer Gesellschaftskultur – für sie setzt Politik Regeln. Sport ist aber auch ein Fundament unserer Zivilgesellschaft – und in dieser Hinsicht politikfrei. So soll das auch bleiben. Letztlich ist es aber eine Balanceakt, den jeder für sich selbst von Fall zu Fall entscheiden muss. Wo setze ich eine rote Linie, wo nicht? Was sich Russland derzeit erlaubt, da hört der Spaß auf. Oder wenn WM-Stadien unter Bedingungen gebaut werden wie in der Sklavenarbeit, dann sind Grenzen überschritten. Da darf man die Augen nicht verschließen, das muss man ansprechen.

Wären Sie nach Sotschi gefahren?

Kretschmann: Ich hätte mich wohl eher wie Bundespräsident Joachim Gauck entschieden. Ich habe Respekt vor seiner Entscheidung. Ich habe aber auch Respekt vor jedem Sportler, der zu den Olympischen oder Paralympischen Spielen gefahren ist, weil er jahrelang dafür geschuftet hat.

Zurück ins Sportland Baden-Württemberg, das sich den Luxus von drei Sportbünden und einem Dachverband leistet. Eine Verschwendung von Steuergeldern. Das Land zahlt jährlich 64 Millionen Euro an den Sport. Warum schaut die Politik nur zu?

Kretschmann: Das wäre ein schwerer Eingriff in die Autonomie des Sports. Wenn die Funktionäre diese Struktur allerdings überdenken und eine einheitliche baden-württembergische Sportorganisation mit schlanken Strukturen anstreben würden, hätte ich sicherlich nichts dagegen. Im Gegenteil: Ich würde sie ermuntern.

Fragen von Gunter Barner

Quelle:

Stuttgarter Nachrichten
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