Interview

„Selbstverständlich glaube ich an Wunder“

Portätfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Garten der Villa Reitzenstein.

Ein neues Verhältnis zwischen Staat, Markt und Bürgergesellschaft. Das ist das Ziel von Winfried Kretschmann. Im Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ spricht der baden-württembergische Ministerpräsident über Individualismus, Gemeinwohl, Bürgerproteste und Stuttgart 21.

DIE ZEIT: Herr Ministerpräsident, von Stuttgart über Madrid bis Birmingham sieht sich die Politik mit einer Woge aufbrandender Wut konfrontiert. Vor wenigen Wochen standen Sie selbst allein ein paar Tausend aufgebrachten Bahnhofsgegnern gegenüber. Wie erleben Sie eine solche Situation?

Winfried Kretschmann: Als normal! Jedenfalls ist das die Normalität, die ich will. Natürlich kann ich mit 4.000 Leuten nicht wirklich debattieren. Aber dass wir wieder richtig mit der Bürgerschaft reden, darum geht es.

DIE ZEIT: Von Normalität kann doch aber nicht die Rede sein, wenn Bürger wie in Tottenham ihre eigenen Wohnviertel in Brand setzen, wenn jede Woche ein neuer Staat vor dem Bankrott steht - höchstens von einer Normalität der Krise.

Kretschmann: Allerdings. Wir haben eine große ökologische Krise, eine Krise der Globalisierung, alte ungelöste Fragen des Verhältnisses zwischen Nord und Süd, von sozialen Ungerechtigkeiten. Die schlagen jetzt mit Wucht durch. Die Jahre des Marktradikalismus gipfelten in einer gigantischen Finanzkrise, die uns nun zwingt, das Verhältnis zwischen Staat, Markt und Bürgergesellschaft neu zu ordnen. Und darüber müssen wir mit den Menschen reden. Nicht über das Klein-Klein, wie man das gerade beim Management der Euro-Krise beobachten kann, dem ein normaler Mensch kaum mehr folgen kann. Sondern über die Richtung, das Ziel.

DIE ZEIT: Für die Linken sind die Plünderer Opfer von Sparmaßnahmen, für die Konservativen moralische Versager. Wie sehen Sie das?

Kretschmann: Zu viel soziales Deuten ist hier sicherlich fehl am Platz. Aber vom Herum-Moralisieren in der Politik halte ich schon mal gar nichts. Was der britische Ministerpräsident David Cameron derzeit macht, das erinnert mich an die Ausrufung der geistig-moralischen Wende unter Helmut Kohl. Das sind Attitüden. Es bringt gar nichts. Die Leute reagieren darauf nur mit der Überzeugung: Die trinken Wein und predigen uns Wasser.

DIE ZEIT: Wie sonst löst man solche Konflikte?

Kretschmann: Ein Beispiel. Ich werde jetzt Widerstand bekommen, weil wir viele große Windräder in die Gegend stellen werden. Den Leuten, die das für Landschaftsverschandelung halten, muss man von vornherein sagen: Wenn ihr meint, es verschandele die Landschaft, ist das leider nicht zu ändern. Natürlich wollen wir sie in Windparks konzentrieren. Aber wir können die Windräder nicht im Keller unterbringen. Ihr müsst schon sehr gute Argumente liefern, wenn wir sie nicht bei euch vor die Haustür setzen sollen. Dann bauen wir sie woanders hin. Aber bauen werden wir sie. Warum? Weil das Gemeinwohl es gebietet.

DIE ZEIT: Und wenn Ihr Gegenüber auf das Gemeinwohl pfeift?

Kretschmann: Wir müssen uns damit abfinden, dass in einer modernen Gesellschaft die Spitze des Individualismus immer noch nicht erreicht ist. In den ersten zwanzig Jahren der Republik galt noch der Satz: Institutionen entlasten. Die machen das schon richtig. Das war für die Aufbauphase gut. Heute will eine gut ausgebildete Bürgerschaft partizipieren. Wir stoßen auf harte Interessengegensätze. Aber es ist nun einmal die Aufgabe der Politik, dieses Gemeinwohlinteresse durchzusetzen. Die Sozialministerin muss sich mit Selbsthilfegruppen streiten, die Kultusministerin mit engagierten Elterninitiativen oder der Umweltminister mit Protesten gegen Windräder.

DIE ZEIT: Haben Sie manchmal Angst, dass da was kippt? Dass es zu Gewalt kommt, wir englische Verhältnisse bekommen?

Kretschmann: Die Gefahr besteht, ist aber nicht wirklich aktuell. Da müssen wir, speziell wir Grünen, die wir aus der Protestbewegung kommen, sehr entschieden sein. Für Gewalt gibt es keine Rechtfertigung, außer die, die das Grundgesetz vorsieht: wenn nämlich Leute die Demokratie beseitigen wollen und das staatliche Gewaltmonopol versagt. Davon sind wir weit entfernt.

DIE ZEIT: Viele der Konflikte sind Verteilungskämpfe, Jung gegen Alt. Die Politik hat durch die Staatsverschuldung immer weniger Möglichkeiten, sich Frieden zu erkaufen durch Wahlgeschenke.

Kretschmann: Ich habe ja, in bescheidenem Umfang, an der Fixierung der Schuldenbremse  in der Verfassung mitwirken können. Das ist eine der zentralen Aufgaben dieser Regierung. Ich freu mich nicht gerade darüber. Aber genau das wollte ich.

DIE ZEIT: Dennoch haben auch Sie die Staatsverschuldung erhöht.

Kretschmann: Wir haben uns vorgenommen, innerhalb von zehn Jahren einen nachhaltig ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen. Wir haben riesige Altlasten der Vorgängerregierung. Wir können da jetzt nicht einfach blind sparen, wir müssen Sanierungsstaus aufheben, wir müssen investieren, in die frühkindliche Bildung zum Beispiel. Wenn wir da nicht sofort was machen, wird's noch teurer. Auch die Finanzen müssen öffentlich debattiert werden. Bürgerhaushalte sind ein erster Schritt. Der CDU-Finanzminister Stratthaus hat das immerhin mal angefangen: hingehen und mit den Leuten über den Haushalt reden.

DIE ZEIT: Apropos Marktradikalismus und Wasser und Wein. Viele Standards der Linken sind inzwischen Gemeingut geworden: dass die Reichen mehr abgeben müssen, die Börsen reguliert werden, Gewinne nicht immer privatisiert, Verluste verstaatlicht werden. Kehren auch Sie, als Exlinker, wieder zu Ihren Anfängen zurück?

Kretschmann: Ich bin diesem Marktradikalismus noch nie aufgesessen. Von sozialistischen Ideen bin ich allerdings auch geheilt. Ich halte nichts davon, jetzt wieder aus dem Neoliberalismus ins Gegenteil zu verfallen. Und trotzdem: Aus der Wirtschaft höre ich immer wieder, lassen Sie uns mal machen, wir wissen das schon selber. Von wegen! Wenn die Wirtschaft alles selber richten könnte, warum hat es dann die Finanzmarktkrise gegeben? Von so einer Ansage lasse ich mich überhaupt nicht beeindrucken. Die Wirtschaft braucht Rahmenbedingungen - wenige, aber klare. Andererseits braucht man zum Beispiel im Krankenhauswesen auch ökonomisches Denken. Viele Aufgaben kann die Zivilgesellschaft übernehmen. Hier in Baden-Württemberg ist sie sehr stark. Bei der Energiewende sehe ich viele Leute, die haben genug Geld, sich an Windparks zu beteiligen. Der alte Genossenschaftsgedanke, ein durchaus linker Gedanke, ist plötzlich wieder da, Energiegenossenschaften schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Leute sind halt nicht nur Wutbürger, sondern auch Mutbürger, und bereit, selber etwas in die Hand zu nehmen.

DIE ZEIT: Warum kommt die Krise der Linken eigentlich nicht zugute?

Kretschmann: Weil sie auf den Marktradikalismus mit einem etatistischen Gegenreflex reagiert. Die Leute wissen noch genau, das ist auch nicht der richtige Weg.

DIE ZEIT: Baden-Württemberg geht es alles in allem blendend. Was hat die CDU richtig gemacht?

Kretschmann: In den ersten Jahrzehnten des Landes die Bildungspolitik. Eine der heftigsten Debatten, die der Landtag je erlebt hat, drehte sich um die Frage, ob man bei der Konfessionsschule bleibt oder ob man eine christliche Gemeinschaftsschule bildet. Die CDU hat sich am Ende für die Gemeinschaftsschule entschieden. Meine Vorgänger haben Universitäten gegründet, sie haben dafür gesorgt, dass es im Land kein regionales Bildungsgefälle gibt. Diese Dynamik hat die CDU verloren. Wir setzen nun, so paradox es klingen mag, die Maxime der alten CDU-Bildungspolitik fort: Keiner darf durch den Rost fallen. Nur braucht man heute Ansätze, die der demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Wir müssen die Tatsache, dass die Gesellschaft sich geändert hat und zum Beispiel mehr Menschen mit Migrationshintergrund hier leben, bei der Bildungspolitik berücksichtigen. Das zweite, was die CDU vollkommen richtig gemacht hat, war, dass sie Zentralismus vermieden hat, wir heute eigenständige, wirtschaftlich starke Regionen haben. Unter neuer Flagge und mit neuen Schwerpunkten wie der ökologischen Modernisierung wollen wir diese Erfolge fortsetzen.

DIE ZEIT: Worin unterscheidet sich eigentlich Ihr Konservatismus von dem Erwin Teufels?

Kretschmann: Teufel gehört in die Riege meiner starken Vorgänger. Ich bin einfach ein Grüner - Teufel, bei allem Respekt, hat jedes Windrad noch persönlich bekämpft. Die Biografien sind grundverschieden, meine kurvenreich, seine geradlinig. Ich habe ihn zwar im Wahlkampf oft zitiert, wir kommen aber doch aus ganz anderen Traditionen, das merkt man nicht zuletzt am Habitus. Wir haben aber auch unglaublich starke Übereinstimmungen. Den in der Wolle gefärbten Katholiken, das sind wir beide, erkennt man am Subsidiaritätsdenken. Da haben wir eine tiefe Verwandtschaft.

DIE ZEIT: Sie beginnen Ihre Regierungsjahre mit einer Niederlage. Stuttgart 21 wird gebaut.

Kretschmann: Die Messe ist noch nicht gelesen.

DIE ZEIT: Sie glauben also doch an Wunder.

Kretschmann: Ja selbstverständlich glaube ich an Wunder. Man muss nur verstehen, was in der Politik ein Wunder ist. Ich halte es da mit Hannah Arendt: Durch die Politik können Dinge geschehen, die niemand erwartet. Das verleiht der Politik erst tiefen Sinn. Wunder kann man nicht erzwingen, aber etwas dafür tun, dass sie eintreten. Etwa Menschen hinter einer Idee versammeln.

DIE ZEIT: Der SPD fällt es erkennbar schwer, unter einem Grünen-Ministerpräsidenten Juniorpartner uu sein, weil es ihren Führungsanspruch im linken Lager untergräbt. Es schwirren bereits Gerüchte umher, mancher setze auf eine Große Koalition.

Kretschmann: Wir sind eine Koalition eingegangen, die in einer zentralen Frage, S21, keine gemeinsame Grundüberzeugung hat. Das konnten wir nur durch die Einigung auf eine Volksabstimmung lösen. Das ist ungewöhnlich und belastend, fraglos - und nicht gerade wenig belastend. Wenn manche Sozialdemokraten tatsächlich auf eine Große Koalition schielen sollten, wünsche ich viel Spaß. Das wäre ein Desaster für die SPD. Aber die Sorge habe ich nicht. Die SPD will diese Koalition genauso wie wir.

DIE ZEIT: Was hat aus Ihrer Sicht die SPD zum Gelingen der Bundesrepublik beigetragen?

Kretschmann: Ich habe großen Respekt vor der Volkspartei SPD und ihrer Tradition. Sie hat die große soziale Frage insofern gelöst, als sie die Klassengegensätze weitgehend eingeebnet hat. »Gute Arbeit« ist ein weiteres Kernthema der SPD und, mit der Ökologisierung der Wirtschaft, ein zweites wichtiges Anliegen unserer Regierung. Wo, wenn nicht hier, in dem so gut aufgestellten Industrieland Baden-Württemberg, können wir diese beiden Zentralanliegen von Grünen und SPD realisieren.

DIE ZEIT: Viele betrachten es als einen historischen Zufall, dass ein Grüner Baden-Württemberg regiert. Sie rechnen damit, dass sich nach fünf Jahren wieder alles einrenkt - und ein Vertreter der Volksparteien regiert. Sind Sie ein Regierungschef auf Abruf?

Kretschmann: Das Gegenteil ist der Fall. Fast alle Menschen, die ich treffe, wünschen mir viel  Kraft und Durchhaltevermögen. Sie sind, banal gesprochen, hocherfreut darüber, dass es endlich mal andere gibt als nur Schwarze. Sie verbinden aber auch große Erwartungen mit einem grünen Regierungschef. Die ökologische Frage, unsere Lebens- und Wirtschaftsweise kompatibel zu machen mit den Lebensgrundlagen unseres Planeten, ist eine Jahrhundertaufgabe. Deshalb sehe ich den Regierungswechsel eher als ein historisches Ereignis als ein zufälliges. Natürlich haben wir von Fukushima profitiert. Das hat aber einen Grund: Weitsicht. Wo die anderen erst durch die Faktizität einer Katastrophe belehrt wurden, da ließen wir uns durch Denken belehren. Dafür sind wir belohnt worden - und nicht durch das Ereignis selbst.

DIE ZEIT: In Ihrem Regierungssitz, der Villa Reitzenstein, hängt ein Porträt des früheren Ministerpräsidenten und Altkanzlers Kurt Georg Kiesinger, der Mitglied der NSDAP war. Was sagt es über das Land aus, dass Sie jetzt sein Nachfolger sind?

Kretschmann: Dass Baden-Württemberg heute eine moderne Bürgerrepublik ist. In Kiesinger sehe ich aber nicht nur den Mann, der in die Nazizeit verstrickt war. Ich sehe auch den Gründer der Universität von Konstanz.

Das Interview führten Peter Dausend und Mariam Lau.

Quelle:

Die Zeit
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