Interview

„Das Boot ist nie voll“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht in Böblingen in einer Flüchtlingsunterkunft mit Bewohnern (Bild: © dpa)

Im Interview mit der „Zeit“ erläutert Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Verbesserungen für die hier lebenden Flüchtlinge, die er der Bundesregierung beim Asylkompromiss abringen konnte, und spricht sich für eine humane Zuwanderungspolitik aus. Von der EU verlangt Kretschmann mit Blick auf die Diskriminierung von Sinti und Roma, dass sie „mit derselben Verve, mit der sie Wettbewerbspolitik durchsetzt, auch Minderheitsrechte“ durchsetzen solle.

Die Zeit: Herr Ministerpräsident, weil Sie den Asylkompromiss der Bundesregierung mitgetragen haben, wird Ihnen von Grünen Parteifreunden Verrat vorgeworfen, und Sie sollten sich schämen. Schämen Sie sich?

Winfried Kretschmann: Nein. Dazu gibt es auch gar keinen Grund. Als wir vor der Sommerpause beschlossen haben, mit der Bundesregierung zu verhandeln, war die gesamte Führung von Partei und Bundestagsfraktion dabei und es gab keine Einwände gegen die Verhandlungslinie.

Wenn alle im Bilde waren, warum ist das dann so eskaliert?

Kretschmann: Ich war selbst überrascht, dass es auf einmal so eine grundsätzliche Kritik an diesem Ergebnis gab, so als hätte man hier ein Grundrecht gegen schnöde pragmatische Geländegewinne verkauft.  Das war natürlich nicht der Fall.

Was hat die Entscheidung denn für Sie so schwierig gemacht?

Kretschmann: Wir haben uns 1993 als Grüne mit aller Kraft gegen den damaligen Asylkompromiss gestellt. Die Einführung von sogenannten sicheren Herkunftsländern war damals als ein Mittel gedacht, die Zahl der Asylbewerber zu reduzieren, das wollten wir nicht. Wenn wir heute die Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklären, erinnert das viele, auch mich, natürlich an die damalige Auseinandersetzung. Und natürlich erschwert es das beschleunigte Verfahren, tatsächlich Asyl zu bekommen. Auch wenn weiterhin jeder Einzelfall geprüft wird. Auch ich weiß um die Situation der Roma auf dem Balkan. Sie werden dort drangsaliert, diskriminiert und ausgegrenzt – aber eben nicht politisch verfolgt. Politisches Asyl kommt dadurch meistens nicht in Betracht.

Die Union argumentiert, dass Armutsflüchtlinge die Plätze belegen, die wir für die wirklich vom Tode Bedrohten brauchen. Stimmt das?

Kretschmann: Nein. Die Entlastungswirkung, die sich da viele versprechen, an die glaube ich nicht, weil die Asylbewerber aus den Balkanstaaten ohnehin überwiegend so behandelt wurden, als kämen sie aus sicheren Herkunftsländern. Weit über 90 Prozent der Menschen, die von dort zu uns kommen, werden schon jetzt sofort als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen.

Wenn sich in Wahrheit gar nichts ändert – warum um alles in der Welt hat sich ihre Partei dann so dafür verkämpft?

Kretschmann: Da geht es auch um unterschiedliche Rollen. Wir führen hier in Baden-Württemberg die Regierung. Ich muss mir als Ministerpräsident die Sachverhalte genau ansehen, mich auf praktische Verbesserungen konzentrieren. Als Oppositionspartei hingegen wendet man sich eher den grundsätzlichen Fragen zu und verlangt das Maximale.

Driften die Grünen im Bund und in den Ländern immer weiter auseinander?

Kretschmann: Wir regieren in sieben Ländern mit, sind aber im Bund die kleinste Oppositionspartei. Das zusammenzuführen, ist wirklich keine leichte Aufgabe. Dieses Kunststück ist hier nicht gelungen. Genau daran müssen wir arbeiten.

Was ist der praktische Gewinn der neuen Regelung?

Kretschmann: Die Residenzpflicht wird gelockert, so dass man seine Familie irgendwo sonst in Deutschland besuchen kann. Die Flüchtlinge kriegen jetzt keine Kiste mit Lebensmitteln mehr vor die Tür gestellt, sondern bekommen Geld, mit denen sie selbst einkaufen gehen können. Und sie können früher arbeiten. Die Vorrangprüfung ist verkürzt worden, nach der immer erst geprüft werden muss, ob ein Deutscher Bewerber für einen Arbeitsplatz da ist. Man spürt immer wieder, wie wichtig das ist: sich selbst über Wasser halten zu können, sich hier einbringen zu können – ein enorm wichtiger Punkt für eine erfolgreiche Integration. Dafür haben Flüchtlingsorganisationen jahrelang gekämpft. Den Kritikern muss ich sagen: so viel haben wir unter Rot-Grün im Bund nicht erreicht!

Die Flüchtlingszahlen liegen jetzt bei circa 200.000 und sie werden steigen. Gibt es eine Grenze?  Wann ist das grüne Boot voll?

Kretschmann: Das Boot ist nie voll. Die Türkei hat jetzt etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge.  Wir haben als eine der reichsten Regionen der Welt eine hohe humanitäre Verantwortung. Wer verfolgt wird an Leib und Leben zum Beispiel im Irak oder in Syrien, den müssen wir aufnehmen. Der Konsens in der Bevölkerung, hier zu helfen, ist so groß wie nie. Aber als Ministerpräsident habe ich eine Verantwortung dafür, dass die Empathie erhalten bleibt. Ich muss das Land zusammenhalten. Ich muss mit den Bürgermeistern, die für Unterkünfte sorgen sollen, nach guten, menschenwürdigen Lösungen suchen.

Warum ist die Hilfsbereitschaft der Deutschen eigentlich so viel größer als in den neunziger Jahren?

Kretschmann: Zum einen sehen die Menschen, was im Nahen Osten los ist. Was zum Beispiel den Jeziden widerfährt, die Barbarei durch den so genannten ‚Islamischen Staat’ ist wirklich bestürzend. Sie haben letztens bei uns in der Fraktion berichtet. Zum anderen haben eben viele, von Papst Franziskus bis zu den Flüchtlingsorganisationen, auf mehr Barmherzigkeit hingewirkt. Auch der politische Konsens ist viel stärker als in den neunziger Jahren. Von den Rändern links und rechts abgesehen, gibt es kaum Ausreißer, die das Thema zur parteitaktischen Mobilisierung nutzen.

Hält die Akzeptanz denn Schritt mit der wachsenden Not?

Kretschmann: Sie ist fragil, das weiß ich. Die Bereitschaft, zu helfen, ist da. Aber es werden auch immer Gründe gesucht, für ein ‚bei uns nicht‘. Da muss man sehr offen mit den Leuten reden. Einfach ist das nicht.

Ist in Ihren Augen die Unterscheidung zwischen Armuts- und Bürgerkriegsflüchtlingen legitim?

Kretschmann: Wer jetzt behauptet, wir würden zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Flüchtlingen unterscheiden, der weiß nicht, was er damit anrichtet. Wir haben die Verpflichtung, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren. Aber die Armut in der Welt zu bekämpfen ist eine globale Aufgabe, die sich nicht mit dem Asylrecht lösen lässt. Wir brauchen eine humane Zuwanderungspolitik, die Menschen nicht zwingt, es über das Asylrecht zu versuchen. Wenn die Europäische Union mit derselben Verve, mit der sie Wettbewerbspolitik durchsetzt, auch Minderheitsrechte und Rechtsstaatsregelungen durchsetzen würde,  dann wären wir sicher weiter, was zum Beispiel die Lage der Roma in Europa betrifft.

In keinem Balkanstaat ist es so schlimm wie in Ungarn, einem EU-Staat!

Kretschmann: So ist es! Was sich ein Staat wie Ungarn erlauben darf – da müssen wir dringend etwas ändern.

Kann es sein, dass die schrillen Töne jetzt auch ein wenig damit zusammenhängen, dass die Grünen nicht mehr so recht wissen, wer sie sind?

Kretschmann: Das sehe ich nicht so. Aber der Schock nach der Niederlage bei der Bundestagswahl saß natürlich tief. Da war es in Ordnung, die Ziele nicht so hoch anzusetzen: ein zweistelliges Ergebnis bei der Europawahl und weiterhin in den östlichen Bundesländern in allen Landtagen vertreten zu sein. Aber jetzt können wir dann bitteschön die Latte auch wieder etwas höher legen!

Was meinen Sie damit?

Kretschmann: Raus aus dem 10-Prozent-Turm! Ich erwarte jetzt einfach, dass man sich als Grüne höhere Ziele setzt.

Können Sie das ins Politische übersetzen?

Kretschmann: Wir haben doch Themen, mit denen wir mehrheitsfähig sind! Beispiel: Die ökologische Modernisierung der Wirtschaft; Eine Sozialpolitik, die die demografische Entwicklung verinnerlicht. Oder: Die digitale Revolution. Sie durchdringt alle unsere Lebensbereiche mit rasender Geschwindigkeit. Wir wissen hier in Baden-Württemberg, dass unser Wohl und Wehe davon abhängt, ob wir solche neuen Themen, die die ganze Gesellschaft umtreiben, ob wir die annehmen, oder ob wir immer wieder alte Schlachten schlagen! Wir waren immer die Partei, die Änderungen aufgenommen und verwandelt hat, um damit mehrheitsfähig zu werden.

Dieser Asylkompromiss, war das nicht schwarz-grün in Reinform, und haben die Grünen in ihrer Mehrheit nicht gezeigt, dass so ein Bündnis mit ihnen nicht drin ist?

Kretschmann: Ich betreibe hier keine Farbspiele. Es geht um etwas anderes. Unsere Politik ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Industrie in meinem Land geht immer mehr den ökologischen Weg. Mit ökologischen Ideen die Ökonomie verwandeln und zukunftsfähig machen. Wir haben nun die Möglichkeit, nicht mehr gegen mächtige Kräfte im Land, sondern im kritisch konstruktiven Diskurs mit der Wirtschaft, mit gesellschaftlichen Institutionen, mit den Menschen im Land grüne Politik durchzusetzen. Nur so kommt man aus dem 10-Prozent-Turm raus und erreichen wir Mehrheiten.

Die Fragen stellte Miriam Lau.

Quelle:

Die ZEIT 40/2014
// //