Interview

„In der Politik geht es immer um Alternativen“

Portätfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

„Wir machen eine wertgebundene Politik“, betont Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit der Ludwigsburger Kreiszeitung. Kretschmann  spricht darin über individuelle Förderung in der Schule, eine neue Energiepolitik und den Konflikt um Stuttgart 21.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Regierungen werden normalerweise daran gemessen, was sie hinbekommen, nicht aber daran, was sie verhindern. Großes Ziel Ihrer Politik ist allerdings die Verhinderung von Stuttgart  21. Glauben Sie an Wunder?

Winfried Kretschmann: Es geht nicht darum, einfach nur etwas zu verhindern. Den Stuttgart-21-Gegnern geht es darum zu fragen, ob die Alternative eines modernisierten Kopfbahnhofs nicht verkehrspolitisch und ökonomisch besser ist. Insofern muss ich mich gegen einen solchen Vorwurf schon wehren. In der Politik geht es um Alternativen, und wir sollten uns alle abgewöhnen, Protestbewegungen immer die Nein-Ecke zu drängen. Die CDU jedenfalls ist mit ihrer Dagegen-Kampagne gegen uns gescheitert und an die Wand gefahren. Das Positive dieses Konflikts ist doch, dass er die Republik verändert hat. Die Haltung des „Wir haben recht, und der Bürger muss das schlucken“ ist vorbei. Insofern hat der Konflikt für die Bürger schon einen politischen Ertrag – und darüber können sich alle, egal wie sie zu Stuttgart 21 stehen – freuen. Ob das Projekt scheitert oder nicht, das wird in der Volksabstimmung am 27. November entschieden.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Sie setzen im Widerstand gegen S 21 auf die Volksabstimmung, bei der aufgrund der hohen Hürden, verfassungsrechtlicher Unsicherheiten und bisheriger Umfragen fast klar ist, was herauskommt. Ist das Ihren Wählern gegenüber fair?

Kretschmann: Wir sagen ja auch keine Wahltermine ab, weil es drei Tage vorher Umfragen gibt. Und so sagen wir auch keine Volksabstimmung ab, weil es drei Monate vorher Umfragen gibt. In der Tat sind die Hürden durch das Quorum enorm hoch, deswegen wäre es schon ein Wunder, wenn diese Hürde genommen würde. Gott sei Dank geschieht aber in der Politik immer wieder etwas Unvorgesehenes. Das gibt ihr Sinn. Das beste Beispiel bin ich selbst. Wer hätte denn vor einem Jahr gedacht, dass ein Grüner Ministerpräsident wird? Also, die Frage ist offen, und die Bürgerschaft wird entscheiden – Umfragen hin, Umfragen her.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Und wenn das Volk den Tiefbahnhof will?

Kretschmann: Dann wird gebaut. Wenn wir für direkte Demokratie eintreten und die erste Volksabstimmung in Baden-Württemberg machen, dann hat das Volk das letzte Wort. Wir werden das akzeptieren, egal in welcher Richtung. Ich nehme an, jeder ist dann ein so guter Demokrat, dass er diese Entscheidung akzeptiert.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten. Das ist der wichtigste Grundsatz im deutschen Zivilrecht. Ihr Verkehrsminister Hermann sieht aber nach dem Regierungswechsel bei der Finanzierungsvereinbarung für Stuttgart 21 den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Ist das Recht nichts mehr wert, nur weil Mehrheiten wechseln?

Kretschmann: Nein, aber man kann Verträge kündigen. Das ist eine wichtige Grundlage des Demokratieprinzips und schon oft geschehen, denken Sie nur an den Atomausstieg. Eine Kündigung muss möglich sein. Ansonsten könnten wir, indem wir dauernd Verträge schließen, irgendwann Wahlen unnötig machen. Knackpunkt bei Stuttgart 21 sind ja die Kosten. Unsere Seite hat sehr berechtige Zweifel, dass der Kostendeckel eingehalten werden kann. Auch der Stresstest hat die Gefahr eines verkehrspolitischen Nadelöhrs durch Stuttgart 21 gezeigt. Insofern ist es richtig und verfassungsrechtlich möglich, den Ausstieg zu machen. Allerdings müssen wir dann für die Ausstiegskosten aufkommen. Wir werden in diesem Fall mit der Bahn streiten und verhandeln, wie hoch sie tatsächlich sind. Es bestehen ja ganz unterschiedliche Auffassungen – von 500 Millionen bis zu fast zwei Milliarden Euro.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Wie steht es um die Kombilösung von Tief- und Kopfbahnhof – ist sie immer noch ernsthaft im Gespräch oder sagen Sie „entweder oder“?

Kretschmann: Die Kombilösung ist selbstverständlich ernsthaft im Gespräch. Wir haben die Projektpartner aufgefordert, dazu fundiert Stellung zu nehmen. Das ist weitgehend abgelehnt worden, was ich außerordentlich befremdlich finde. Schließlich war die Schlichtung ein Prozess, auf den sich alle eingelassen haben. Einen solchen Vorschlag nicht profund zu prüfen, dafür habe ich keinerlei Verständnis bei der politischen Brisanz dieser Frage und dem Spaltungscharakter, den sie für die Gesellschaft hat. Ich rate allen, so etwas ernst zu nehmen.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Der Streit um Stuttgart 21 bindet Personal, Geist und Zeit – und geht obendrein an die Nerven. Wie stark leiden die Landesregierung und der Koalitionsfrieden unter dieser thematischen Verengung?

Kretschmann: Die Koalition hat in dieser sehr wichtigen landespolitischen Frage eine tiefe Differenz – und koaliert trotzdem. Weil wir uns auf das Verfahren der Volksabstimmung geeinigt haben. Dass solches reibungslos über die Bühne geht, kann nun wirklich niemand erwarten. Dass Stuttgart 21 die Koalition belastet, ist gar keine Frage. Auch dass der Konflikt viele andere Themen medial beeinträchtigt, kann niemand bestreiten. Aber das wussten wir vorher. Insofern sollten wir jetzt nicht darüber jammern. Das ist einfach so. Da müssen wir jetzt durchhalten. Und dennoch haben auch andere Themen ihre Wirkung, wenn das auch nicht so präsent ist. Nehmen Sie die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung. Diese Entscheidung nimmt den Stress aus Tausenden von Schulklassen heraus – ob darüber berichtet wird oder nicht.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Verlassen wir die thematische Verengung und bleiben bei der Schulpolitik. Was die Gemeinschaftsschule angeht, sieht die Opposition bislang wenig Interesse, das Kultusministerium spricht von 100 Anfragen – und ist zufrieden. Wer hat recht?

Kretschmann: Das Problem liegt woanders. Wir müssen dafür die gesetzliche Grundlage schaffen. Das wird vor Anfang des nächsten Jahres nicht der Fall sein. Der Rahmen muss so sein, dass die Gemeinschaftsschulen auf einem guten Fundament stehen. Sie müssen ja zeigen, dass sie besser sind als die anderen. Die Opposition spielt da ein bisschen laute Begleitmusik. Und die Südwest-CDU bekämpft in der Schulpolitik ja ihre eigene Bildungsministerin. Wer selber nicht orientiert ist, kann nicht Orientierung geben. Wir sind hingegen klar aufgestellt. Denn wir werden in den nächsten zehn Jahren 200.000 Schülerinnen und Schüler weniger haben. Darauf verweist übrigens auch Frau Schavan. Wer einigermaßen auf dem Boden der Realität steht, weiß, dass man dazu die Strukturen ändern muss. Die Gemeinschaftsschule ist da die richtige Ansage. Ich habe der Opposition schon in meiner Regierungserklärung angeboten, dass wir in der Bildungspolitik stärker konsensorientiert arbeiten. Aber dazu ist die CDU im Moment nicht in der Lage. Sie muss zuerst aus ihren ideologischen Gräben raus.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Wird die Gemeinschaftsschule zwingend eine gymnasiale Oberstufe haben?

Kretschmann: Es wird sicher nicht zwingend sein. Aber sie wird gymnasiale Standards anbieten. Das ist das Entscheidende. Denn individuelle Förderung, ich möchte das betonen, das ist unsere Überschrift. Die Schwachen mitnehmen, dass keiner verloren geht, aber auch die Starken stärken. Die Gemeinschaftsschule ist ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selber.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Ein weiteres Leuchtturmprojekt der Regierung ist die Energiepolitik. Das Land ist mit gut 46 Prozent Anteilseigner beim Energiekonzern EnBW. Wie wollen Sie mit dem Atomstromer die Energiewende schaffen?

Kretschmann: Es ist eine große Herausforderung, den Konzern komplett umzubauen in ein Unternehmen, das auf erneuerbare Energien setzt, auf Kraft-Wärme-Kopplung, auf Energieeffizienz, auf Partnerschaft mit den Kommunen – kurz, auf eine andere energiepolitische Zukunft.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Geht das mit dem bestehenden Führungspersonal, geht das mit EnBW-Vorstandschef Hans-Peter Villis, der gerade um die Verlängerung seines Vertrages kämpft?

Kretschmann: Wir sind mit der EnBW in einer strategischen Debatte. Unsere Aufsichtsräte sind ja erst ganz frisch im Unternehmen drin. Es geht erst einmal darum, wie sich das Unternehmen konkret aufstellt.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Aber ein grundsätzlicher Umbau ist notwendig?

Kretschmann: Das ist absolut notwendig. Das ist allen klar. Der Umbau ist schwierig, was aber nicht nur für die EnBW gilt, sondern für alle großen Energieversorger. Doch wir führen jetzt keine Personaldebatten, vor allem nicht in der Öffentlichkeit.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Sie wollen den Ausbau der Windkraft. Wie weit sind Sie damit, entsprechende Vorranggebiete auszuweisen?

Kretschmann: Die gesetzlichen Vorarbeiten sind im Gange. Das muss man handwerklich sauber machen.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Sie sprechen von einem neuen Landesplanungsgesetz?

Kretschmann: Ja, wir müssen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Windkraft in dem von uns gewünschten Tempo ausgebaut werden kann. Wir versuchen, das noch in diesem Jahr hinzukriegen. Aber es ist der Obersatz unseres Regierungshandelns, dass Seriosität immer vor Schnelligkeit geht. Die Leute wollen ja gut regiert werden.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Deutschland schafft den Ökostrom-Rekord, doch EU-Energiekommissar Günther Oettinger, einer Ihrer Vorgänger, sorgt sich um die gefährlich hohen Strompreise und fürchtet eine De-Industrialisierung, wenn der Preis nicht sinkt. Teilen Sie diese Befürchtung?

Kretschmann: Zuerst wollen wir mal festhalten, dass der Strompreis dauernd gestiegen ist, auch ohne Energiewende. Der wird auch weiter steigen, aber moderat. Ich sehe nicht die Gefahr, dass wir gegenüber einem Nicht-Atomausstieg zu relevant höheren Kosten kommen – und weiß gar nicht, wie Herr Oettinger auf ein solches Horrorszenario kommt. Das Gegenteil ist der Fall. Es wird gerade für unsere mittelständische Wirtschaft, für die Stadtwerke und Unternehmer, die in Effizienztechnologien gehen, eine große Chance sein, mit Energie und ressourcensparenden Produkten auf den Markt zu kommen. Das wird die neue Leitindustrie sein, wir werden den Vorsprung als Exportnation halten. Und wir werden gerade auf diesem Gebiet Premiumprodukte anbieten. Die Energiewende bringt einen Modernisierungsschub und ist damit das genau Gegenteil von De-Industrialisierung.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Die Opposition hat Ihnen vorgeworfen, der Tagespolitik entrückt zu sein. Trifft Sie das?

Kretschmann: Überhaupt nicht, weil es nicht stimmt. Der Regierungschef ist für die Grundsätze und Richtlinien der Politik verantwortlich. Für das Tagesgeschäft hat die Regierung ihre Ministerien. Der Ministerpräsident trägt gleichwohl die Gesamtverantwortung für die Regierungspolitik: Daher können Sie sicher sein, dass ich mich detailliert mit den Themen beschäftige.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Ihr Ziel ist eine Politik ohne Intrigen, ohne Routinen, ohne die Reflexe, die mehr dem Erhalt von Macht dienen als dem Erfolg des Machens. Lässt sich das wirklich durchziehen?

Kretschmann: Man kommt in der Politik nicht ohne Strategie und Taktik aus. Auch ich nicht. Die Frage ist nur, welchen Stellenwert hat das. Wir machen eine wertgebundene Politik. Wovon ich nichts halte, ist dieser vordergründige Schlagabtausch. Davon haben die Leute genug. Wir müssen hart an der Sache unsere Kontroversen austragen und auch die Bürgerschaft mit einbeziehen – mit einer Politik des Gehörtwerdens. Wir müssen schauen, dass wir auch gesellschaftliche Mehrheiten bekommen und uns nicht nur auf die parlamentarischen verlassen. Ich will in der Politik gestalten. Das ist mein Machtbegriff. Um irgendwelche Posten geht es mir nicht.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Nochmals zu den Routinen. Um den Imperativ des Sachzwangs kommt ja auch ein Ministerpräsident wie Sie nicht herum. Haben Sie sich schon an Dinge gewöhnt, an die Sie sich eigentlich nie gewöhnen wollten?

Kretschmann: Das Bild der Sachzwänge halte ich für außerordentlich gefährlich für die Politik – als gäbe es Dinge, die ihr entzogen sind. Aber Politik ist ja gerade das gestaltende Element des Menschen in einer Demokratie. Politik muss selber die Rahmenbedingungen setzen, sonst wird sie getrieben – und dann entstehen erst die Sachzwänge.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Aus Ihren Worten spricht das Bestreben, sich dauernd gegen die Routine zu stemmen …

Kretschmann: Ja, das tue ich.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Erfolgreich?

Kretschmann: Nein. Nicht, dass der Eindruck entsteht, ich sei größenwahnsinnig. Der Prozentsatz ist sicher nicht höher als zehn Prozent. Zehn Prozent ringe ich der Routine vielleicht ab. Aber alleine sich dagegen zu stemmen, ist wichtig. Das ist zwar anstrengend und auch nicht immer gesund, weil man dann zu wenig schläft. Aber ich bin halt so gestrickt.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Kretschmann ist Kult. Umfragen belegen ihre Beliebtheit. Sie sind das Pfund, mit dem die Grünen wuchern können. Wie kommen Sie und Ihre Partei mit dem Rummel um ihre Person zurecht?

Kretschmann: Ich versuche, meine Arbeit nach meinen Grundsätzen zu machen. Und sehe in den Umfragen hohe Erwartungen, weiß aber, dass ich sie nicht alle erfüllen kann. Ich werte den Zuspruch erst einmal so, dass es angekommen ist, dass wir einen anderen Stil pflegen. Das ist uns Verpflichtung. Alles ist ja bislang nur ein Vertrauensvorschuss. Wir regieren gerade mal drei Monate. Ich bleibe auf dem Teppich, auch wenn jetzt mein Teppich mal wieder fliegt.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Ihr Anspruch ist es, ein offener Mensch zu sein. Beißt sich das nicht mit ihrer Rolle als öffentliche Person?

Kretschmann: Ja, das beißt sich schon. Der Kretschmann kann ja nicht einfach sagen, was ihm so durch den Kopf geht. Ich merke, dass es gewöhnungsbedürftig ist, wenn jeder Halbsatz auf die Goldwaage gelegt wird. Dass überhaupt nur noch mit der Goldwaage gewogen wird. Aber ich will vermeiden, aus Angst zum Schluss nur noch gestanzte Phrasen von mir zu geben. Ich will so offen reden, wie es geht.

Ludwigsburger Kreiszeitung: Dass in Baden-Württemberg ein Grüner regiert, betrachten politische Gegner als historischen Zufall. Sind Sie ein Ministerpräsident mit Restlaufzeit?

Kretschmann: Ich sehe das nicht als Zufall an. Selbst wenn Sie die Atomkatastrophe von Fukushima nehmen. Warum haben andere Parteien nicht davon profitiert, sondern wir? Weil wir die Dinge durchdacht haben. Wir sind nicht durch das Faktum der Katastrophe belehrt worden, sondern durch Denken und Weitsicht. Zudem, gerade wir als starke Industrieregion können zeigen, dass die ökologische Modernisierung der Wirtschaft und unserer ganzen Lebensweise möglich ist, gute Jobs und auch Wohlstand sichert. Die Zukunft der Weltmärkte sind nun mal grüne Produktlinien. Und mein Eindruck ist, die Baden-Württemberger wie auch die Wirtschaft gehen diesen Weg mit.

Das Gespräch führten Ulrike Trampus und Hartmut Wiedmann.

Quelle:

Ludwigsburger Kreiszeitung
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