Interview

Gleicher Zugang für die Bürger

Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Landespressekonferenz (Foto: dpa).

„Die Politik des Gehörtwerdens ist dann erfolgreich, wenn die Zivilgesellschaft den gleichen Zugang zur Gesetzgebung hat, wie ihn starke Lobbygruppen schon immer haben“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Er spricht im Tagesspiegel-Interview über die Politik des Gehörtwerdens, den Nationalpark im Schwarzwald und Bürgerproteste.

Tagesspiegel: Herr Ministerpräsident, die Zeit des Durchregierens sei zu Ende, haben Sie im Koalitionsvertrag versprochen. Was ist zwei Jahre später von diesem Versprechen noch übrig?

Winfried Kretschmann: Alles.

Waren die Erwartungen nicht zu groß?

Kretschmann: Die Gefahr besteht immer. Wir leben in einer Zeit, in der Halbsätze ganzer Sätze zu ganzen Sätzen werden. Der ganze Satz lautet: Die Politik des Gehörtwerdens bedeutet nicht, dass man die in der Verfassung verankerten Grundstrukturen demokratischer Entscheidung infrage stellt.

Wer tut das denn?

Kretschmann: Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Wir wollen im Schwarzwald einen Nationalpark einrichten. In Umfragen von sieben betroffenen Kommunen haben die Bürger dort den Park mit großer Mehrheit abgelehnt. Manche beschweren sich nun, wir hätten sie betrogen. Nun, wir gehen ernsthaft auf deren Argumente ein, wir treten in den Diskurs, wir haben zahlreiche Anregungen und Bedenken aus der Region berücksichtigt. So sind fünf dieser sieben Gemeinden nicht mehr vom Nationalpark tangiert. Und wir sind stärker in die Höhenlagen gegangen, wo es weniger Holzertrag gibt. Aber wir haben nie einen Zweifel daran gelassen: Über einen Nationalpark entscheidet der Landtag, es gibt kein lokales Vetorecht.

Für das Missverständnis sind Sie nicht verantwortlich?

Kretschmann: Ich habe mir da wenig vorzuwerfen. Ich habe schon im Wahlkampf gesagt, ich will aus Baden-Württemberg nicht den größten Debattierklub aller Zeiten machen, in dem nichts mehr entschieden wird. Ich habe immer gesagt: Am Schluss entscheiden die Institutionen, die unsere Verfassung vorsieht.

Die Opposition wirft Ihnen trotzdem vor, Sie hätten Ihr Versprechen gebrochen.

Kretschmann: Wir haben kein Versprechen gebrochen. Bleiben wir beim Beispiel Nationalpark Schwarzwald. Die große Mehrheit der Bürgermeister aus der betroffenen Region hat mir erst kürzlich bestätigt, dass die Landesregierung einen vorbildlichen Prozess der Bürgerbeteiligung hinbekommen hat. Wir haben sogar bei dem zentralen Gutachten die Bürger einbezogen, sie haben 1600 Fragen formuliert, die allesamt beantwortet wurden. Trotzdem hat sich in einigen betroffenen Gemeinden eine sehr emotionale Stimmung dagegen aufgebaut. Ich gebe zu: Gegen solche emotionalen Radikalisierungen, die von Minderheiten ausgehen, haben wir bislang noch kein Rezept.

Hat Sie die Härte des Widerstandes im Schwarzwald überrascht?

Kretschmann: Schön war das nicht. Ich bin persönlich hingefahren und bin in einen Hexenkessel geraten. Dabei haben wir nur vor, ein Naturreservat einzurichten. Manche tun so, als wollten wir eine Heroinfabrik in den Schwarzwald stellen. Die Mehrheit der Bevölkerung in der betroffenen Region ist laut Umfragen übrigens dafür.

Drehen wir die Frage mal um: Wo hat Ihre Politik des Gehörtwerdens funktioniert?

Kretschmann: Moment mal, Sie hat im Schwarzwald sehr wohl funktioniert. Politik des Gehörtwerdens bedeutet, dass jeder gehört wird, aber nicht, dass jeder erhört wird mit seinem Anliegen. Das gilt übrigens für beide Seiten. Sie hat auch im Konflikt um Stuttgart 21 geklappt, und zwar hervorragend. Die von uns vor der Wahl versprochene Volksabstimmung hat über den Tiefbahnhof entschieden und einen quer durch die Bevölkerung erbittert geführten Streit weitgehend befriedet.

Die Mehrheit war aber zum Leidwesen Ihrer Partei für den Bau.

Kretschmann: Und ich habe dieses Votum unmittelbar akzeptiert. Gerade als Befürworter von Volksabstimmungen sollten wir nicht glauben, dass sie immer für uns ausgehen. Für die Grünen war das deshalb lehrreich. Das Vertrauen in die Demokratie ist nach der Volksabstimmung über Stuttgart 21 gestiegen, wie Umfragen zeigen. Das ist mir wichtig.

Wie sieht nach zwei Jahren die Bilanz der Bürgerbeteiligung aus?

Kretschmann: Wir haben zwei Jahre Erfahrung mit einer Praxis, mit der die Schweiz seit 150 Jahren umgeht. So etwas einzuüben dauert sehr, sehr lange. Mein Maßstab ist: Die Politik des Gehörtwerdens ist dann erfolgreich, wenn die Zivilgesellschaft den gleichen Zugang zur Gesetzgebung hat, wie ihn starke Lobbygruppen schon immer haben.

Das Interview führten Cordula Eubel und Hans Monath

Das vollständige Tagesspiegel-Interview

Quelle:

Tagesspiegel
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