Interview

„Europa steht auf dem Spiel“

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Bild: © dpa)

Im Interview mit dem Tagesspiegel erklärt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, warum die Flüchtlingskrise nur auf europäischer Ebene gelöst werden kann. Er warnt davor, dass ein Ende von Schengen katastrophale Folgen für die Wirtschaft und damit für die Arbeitsplätze im Land hätte. Gleichzeitig betont er, dass Baden-Württemberg in der Flüchtlingskrise seine Hausaufgaben mache. „Die Leute sehen, dass wir pragmatisch, kompromissbereit und handwerklich ordentlich arbeiten.”

Der Tagesspiegel: Herr Kretschmann, was kann Angela Merkel von Ihnen lernen?

Winfried Kretschmann: Wie kommen Sie denn auf diese Frage?

Sie beide stimmen in der Flüchtlingspolitik weitgehend überein. Doch während die Kanzlerin das Vertrauen der Bevölkerung verliert, ist der Rückhalt für Sie in Baden-Württemberg unverändert hoch. Woran liegt das?

Kretschmann: Ich glaube nicht, dass Angela Merkel etwas von mir zu lernen hätte. Wir haben unterschiedliche Ämter, wir sind unterschiedlichen Zwängen unterworfen. Als Kanzlerin und CDU-Vorsitzende muss sie ganz andere politische Kräfte einfangen als ich.

Welche?

Kretschmann: Sie muss diejenigen überzeugen, die den Zuzug von Flüchtlingen mit Skepsis sehen und lieber auf Abschottung setzen. Und das sind gerade bei den Unionsparteien und ihren Anhängern viele. Um diese Aufgabe ist Frau Merkel nicht zu beneiden. Vor allem die dauernde Kritik der CSU führt zu gesellschaftlicher Instabilität. Die Leute wollen Orientierung. Statt dessen schüren Merkels innerparteiliche Gegner Ängste und verstärken mit fast wöchentlich neuen, meist kurzsichtigen Forderungen wie Obergrenzen, Transitzonen oder Schließung der deutschen Grenze die Illusion, Deutschland könne sich ausklinken und das Problem mit den Flüchtlingen alleine lösen. Das ist brandgefährlich. Denn wer Schengen zerstört und die nationalen Grenzen schließt gefährdet Europa.

Können Sie Merkel helfen?

Kretschmann: So würde ich das nicht sagen. Was wir als Landesregierung tun können, machen wir: gutes Krisenmanagement, ausreichend Unterbringungskapazitäten schaffen und am Ende Integration oder Rückführung der Flüchtlinge. Wir hatten vor einem dreiviertel Jahr 5.000 Erstaufnahmeplätze, wir haben nun 50.000. Wir beschleunigen die Verfahren mit der zentralen Registrierungsstelle in Heidelberg und haben ein Rückführungsmanagement eingerichtet, das die Menschen ohne Bleiberecht in ihre Heimat zurückbringt. Wir haben ein Wohnungsbauprogramm aufgelegt und über tausend neue Lehrerstellen für Vorbereitungsklassen geschaffen. Die Leute sehen, dass wir pragmatisch, kompromissbereit und handwerklich ordentlich arbeiten.

Und ich kann dazu beitragen, dass die Debatte maßvoll und vernünftig geführt wird. Ich muss auch diejenigen einfangen, die glauben, Deutschland könne seine Grenzen für alle öffnen. Auch sie schaden der Diskussion.

Warum tun sich die Grünen im Bund immer noch so schwer mit der Erkenntnis, dass es eine grenzenlose Zuwanderung von Flüchtlingen nicht geben kann?

Kretschmann: Langsam. Dass wir die Zahl der Flüchtlinge, die derzeit Zuflucht in Deutschland suchen, begrenzen müssen, das hat sich längst durchgesetzt in meiner Partei. Ein Gemeinwesen ohne Grenzen gibt sich auf. Wenn in diesem Jahr noch einmal eine Million Flüchtlinge in Deutschland hinzukommen, wird es problematisch. Die Integrationskraft einer Gesellschaft ist nicht beliebig ausdehnbar. Das muss man offen sagen, und das ist auch moralisch nicht verwerflich. Pragmatischer Humanismus, das ist meine Leitlinie.

Kann es moralisch geboten sein, Menschen an der Grenze zurückzuweisen?

Kretschmann: Ja. Das Hauptgebot des Christentums heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Was auch bedeutet: Wir dürfen uns in unserer Nächstenliebe nicht überfordern. Unsere Leitplanken sind das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer verfolgt wird oder aus Bürgerkriegsgebieten flieht, dem gewähren wir Hilfe, den wollen wir integrieren, wenn er bleibt. Wer aus anderen Gründen kommt, den müssen wir zurückschicken. Ob man das an der Grenze macht oder erst später, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es schnell geht.

Wie lassen sich die Verfahren beschleunigen?

Kretschmann: Wir zeigen in unserer Zentralen Registrierungsstelle in Heidelberg, wie es schneller geht. Das muss man sich ein bisschen vorstellen wie früher bei der Musterung. Es gibt es 15 „Straßen”, also Registrierkorridore. Da gibt es eine Trennung zwischen denen, die wahrscheinlich eine Bleiberechtsperspektive haben, und denen mit einer schlechten Perspektive. In der Mitte sind die unklaren Fälle, denn die dauern am längsten. Dann werden die Menschen, sozusagen in einem Zug, registriert, medizinisch untersucht und erkennungsdienstlich behandelt. Sie stellen dann bei den dortigen Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag und dieser wird beschieden. Das alles innerhalb von wenigen Tagen. Das funktioniert. Wenn die Berliner Koalition jetzt einen ähnlichen Weg geht, soll es mir Recht sein.

Zur Begrenzung des Flüchtlingszuzugs hat die Koalition jetzt beschlossen, den Familiennachzug einzuschränken. Einverstanden?

Kretschmann: Wir müssen restriktiver werden, da bin ich überzeugt, aber wir müssen gleichzeitig Perspektiven für die Flüchtlinge aufzeigen. Die Einschränkung des Familiennachzugs für Bürgerkriegsflüchtlinge sehe ich kritisch – wir wollen die Leute doch integrieren. Und sich im Kreise seiner Liebsten zu wissen, die Familie bei sich und nicht im Krieg zu haben, ist eine enorm wichtige Voraussetzung für Integration. Wir schreiben Familie groß, so wie übrigens auch die Kirchen.

Algerien, Marokko und Tunesien sollen zu sichere Herkunftsstaaten erklärt werden, um Asylbewerber aus diesen Ländern schneller abschieben zu können. Stimmt Baden-Württemberg im Bundesrat zu?

Kretschmann: Ich bin offen in dieser Frage, wie ich es immer war. Das Land Baden-Württemberg verfügt aber über kein eigenes Auswärtiges Amt. Die Bundesregierung muss prüfen, ob die Deklarierung dieser Länder zu sicheren Herkunftsländern den hohen Kriterien des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Das werden wir dann auf Plausibilität überprüfen und uns entscheiden. Ich mache das nicht freihändig wie die bayerische Staatsregierung, die gleich eine ganze Liste von 17 angeblich sicheren Herkunftsländern vorlegt. Das ist doch abenteuerlich und keine verantwortungsvolle Politik.

Wie lange hat Angela Merkel noch Zeit, für eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise zu sorgen, also für einen wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen und eine halbwegs gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU?

Kretschmann: Die Krise ist nicht schnell lösbar. Wer das behauptet, gaukelt uns was vor. Deutschland muss jetzt die Nerven behalten. Es ist richtig, dass die Kanzlerin zäh an der europäischen Lösung festhält und Schritt für Schritt daran arbeitet. In den nächsten Wochen sollten aber Fortschritte sichtbar werden. Nach dem was ich aus Berlin und Brüssel höre, bin ich in der Frage aber vorsichtig optimistisch.

Was ist, wenn Merkel scheitert?

Kretschmann: Es steht nicht weniger auf dem Spiel als das gemeinsame Europa. Am Umgang mit der Flüchtlingskrise wird sich erweisen, ob das europäische Projekt Bestand hat. Wenn die Europagegner den Erfolg davon tragen, wäre das eine epochale Katastrophe. Ohne Europa können wir die Flüchtlingskrise ebenso wenig lösen wie andere große Herausforderungen, etwa den Klimawandel, die digitale Revolution oder die Befriedung unserer unmittelbaren Nachbarschaft – sei es in der Ukraine oder im Nahen und Mittleren Osten.

Deswegen müssen wir mit allen Kräften gegen die europäische Vertrauenskrise und die Tendenz zur Renationalisierung kämpfen. Dabei kommt es entscheidend auf Angela Merkel an. Sie verfügt über die nötige Erfahrung als Krisenmanagerin. Welcher ihrer Amtskollegen in der EU soll denn Europa zusammenhalten, wenn sie fällt? Da ist weit und breit niemand in Sicht. Deshalb bete ich jeden Tag dafür, dass die Bundeskanzlerin gesund bleibt.

Bisher deutet nichts darauf hin, dass die Flüchtlingsverweigerer unter den EU-Staaten ihre harte Haltung aufgeben.

Kretschmann: Wir brauchen flexible Lösungen. Wenn der britische Premier David Cameron für sein Land keine Flüchtlinge akzeptiert, dann soll er sich an der Finanzierung beteiligen. Wenn die Slowaken glauben, sie könnten keine muslimischen Flüchtlinge verkraften, dann sollen sie halt christliche nehmen. Auch von denen gibt es genug. Wir müssen in wohlverstandenem Eigeninteresse wieder zu Solidarität zurückfinden.

Kann man die Skeptiker zur Solidarität zwingen?

Kretschmann: Viele europäische Regierungschefs betrachten die EU nur noch als Steinbruch, wo man sich bedient, ohne Rücksicht auf das Ganze zu nehmen. Wir müssen das beenden, sonst geht die EU kaputt. Die Skeptiker müssen wissen, dass sie auf Dauer nur von einer funktionierenden und wirtschaftlich starken EU unterstützt werden können. Auch die neuen EU-Mitglieder im Osten müssen erkennen, dass das Ende von Schengen und ein Einbruch der Wirtschaft in Deutschland sie selbst treffen würde, weil dann auch die deutschen Beiträge für die europäischen Fonds ausbleiben werden.

Wie groß wäre der wirtschaftliche Schaden, wenn die Binnengrenzen in der EU nicht offen gehalten werden könnten?

Kretschmann: Das Ende des Schengen-Systems wäre für das exportorientierte Baden-Württemberg und für ganz Deutschland eine Katastrophe. Damit würden Milliarden verbrannt. Grenzkontrollen führen zu Staus und Wartezeiten, in der Industrie würde die arbeitsteilige Produktion unterbrochen, zu der heute Fabriken aus vielen europäischen Ländern beitragen. Nach wenigen Tagen stehen die Bänder still. Es entstünden enorme Ausfälle und Kosten, unsere Wirtschaftskraft würde deutlich einbrechen. Das wiederum gäbe Nationalisten Auftrieb und würde unsere Demokratie gefährden.

In Villingen-Schwenningen wurde eine Handgranate auf eine Flüchtlingsunterkunft geworfen. Kann der Staat die Flüchtlinge noch schützen?

Kretschmann: Noch wissen wir nicht, wer die Tat verübt hat, und wem der Angriff galt. Grundsätzlich ist aber klar: Wir müssen diese Kriminellen dingfest machen und vor Gericht stellen. Und wir müssen darauf hinarbeiten, dass die enorme gesellschaftliche Polarisierung, die derzeit zu beobachten ist, entschärft wird. Da sind alle Demokraten gefordert. Das kann nicht nur der Staat machen, da müssen die demokratischen Kräfte der Gesellschaft aktiv werden, eingreifen und sich zur Wehr setzen. Sonst ist unser Gemeinwesen bedroht.

Inzwischen wurde bekannt, dass auch in Freiburg Frauen Opfer von sexuellen Übergriffen von Migranten wurden. Der grüne Oberbürgermeister Dieter Salomon spricht sich für eine „harte Linie” aus. Sie auch?

Kretschmann: Bei Straftaten dieses Charakters, da gibt es nur eins, nämlich Härte. Wer sich so verhält, ist nicht integrierbar. Es ist auf der ganzen Welt verboten, dass sich ganze Horden von jungen Männern wie in Köln auf Frauen stürzen, um sie zu bestehlen, sexuell zu attackieren und zu demütigen. Da ist eine rote Linie überschritten, das ist schlichtweg böse. Das bedroht nicht nur Menschen, sondern auch das Gewaltmonopol und den Rechtsstaat.

Von vielen Grünen im Bund war nach der Kölner Silvesternacht aber das Argument zu hören, dass es auf dem Oktoberfest in München ebenfalls zu Übergriffen auf Frauen komme.

Kretschmann: Das ist Unsinn. Das kann doch keine Legitimation sein, dass es auch woanders schlimm zugeht. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht, sondern nur im Recht.

Wenn man solche Taten künftig verhindern will, muss man dann auch über die Herkunft der Täter sprechen, über Mentalitäten oder Frauenbilder in bestimmten Gesellschaften oder Regionen?

Kretschmann: Wir müssen die Dinge benennen, wie sie sind. Alles andere wäre hochgradig naiv und führt nur zu Verschwörungstheorien. Unsere Linie ist klar: Wir spielen nichts hoch und wir spielen nichts runter. Wir suchen die Wahrheit in den Tatsachen, nur so kann man Gerüchte bekämpfen – und es gibt sehr viele Gerüchte momentan. Wir wissen aus Nordrhein-Westfalen, dass bei den Zuwanderern aus dem Maghreb ein hoher Prozentsatz kriminell ist, bei den Flüchtlingen aus Syrien ist es nur ein halbes Prozent. Warum sollte man so etwas verschweigen? Letztlich geht es darum, die Flüchtlinge in ihrer überwiegenden Zahl zu schützen, damit sie nicht kollektiv verantwortlich gemacht werden für die Verbrechen einiger weniger.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Hans Monath.

Quelle:

Der Tagesspiegel
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