Interview

Europa ist unsere Zukunft

Porträtfoto von Ministerpräsident Winfried Kretschmann an einem Tisch.

Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung macht Ministerpräsident Winfried Kretschmann deutlich, dass es ein starkes Europa braucht, damit „auch wir in Baden-Württemberg unseren Wohlstand halten können.“

Stuttgarter Zeitung: Herr Ministerpräsident, Hand aufs Herz, was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie „EU“ und „Brüssel“ hören?

Winfried Kretschmann: „EU“ ist bei mir positiv besetzt, „Brüssel“ nicht immer so. Da könnte etwas mehr Subsidiarität sein und etwas weniger Bürokratie – auch wenn die Rede vom bürokratischen Monstrum ein Vorurteil ist.

Stuttgarter Zeitung: Vielleicht ist Ihr Bild von Europa so positiv, weil Sie als Lehrer eben nicht mit EU-Richtlinien in Verbindung gekommen sind.

Winfried Kretschmann: Ich glaube nicht. Schauen Sie doch auf eine Richtlinie, mit der Baden-Württemberg seine Probleme hatte, nämlich die zu CO2-Grenzwerten für Autos. Gott sei Dank gibt es die jetzt. Was würden sonst noch für Autos herumfahren? Unsere Autoindustrie mit ihren hervorragenden Produkten profitiert von solch harten Vorgaben, da wir die Technik haben, um sie zu erfüllen.

Stuttgarter Zeitung: In Spaichingen muss etwas im Wasser sein, dass die Menschen von Europa überzeugt.

Winfried Kretschmann: Es gibt da schon eine große Geistesverwandtschaft. Der Erwin Teufel und ich, und darauf spielen Sie doch an, sind deswegen überzeugte Europäer, weil wir subsidiär denken. Das heißt ja, dass die eine Ebene nur Dinge nach oben abgibt, die sie selbst nicht regeln kann. Und wenn man subsidiär denkt, muss man vor Europa keine Angst haben. Das verbindet uns. Die CSU hatte mal einen Wahlspruch, der lautete: „Bayern unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft“. Das ist kein schlechter Spruch. Daran sollte sie sich aber auch mal wieder erinnern und nicht populistische Pfade betreten.

Stuttgarter Zeitung: Bisher ist das Prinzip, das Teufel als Konventsmitglied mit in den Lissabonvertrag hineindiskutiert hat, nur schwach ausgeprägt.

Winfried Kretschmann: Bei vielen Dingen, die europäisch reguliert sind, frage ich mich schon: Muss das sein? Bei anderen ist offenkundig, dass wir die Dinge nicht mehr landespolitisch oder nationalstaatlich lösen können.

Stuttgarter Zeitung: Der Brite David Cameron will Kompetenzen aus Brüssel zurückholen.

Winfried Kretschmann: So machen wir Europa zu einem lahmenden Kontinent. Die Europäer werden 2050 noch fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen. Es ist illusionär zu denken, dass wir als Nationalstaaten dann noch eine große Rolle spielen könnten. Nur der Binnenmarkt und die Macht, die Europa global darstellt, geben uns überhaupt eine Chance, dass auch wir in Baden-Württemberg unseren Wohlstand halten können. Insofern halte ich von solchen Renationalisierungstendenzen gar nichts.

Stuttgarter Zeitung: Sie glauben an ein grenzenloses Europa?

Winfried Kretschmann: Wir tun immer so, als ob das etwas Neues wäre. Der Nationalstaat ist die Erfindung der Neuzeit. Eine große europäische Modernisierungsbewegung des Mittelalters waren die Zisterzienser, die in kürzester Zeit Hunderte neuer Klöster in ganz Europa gegründet haben. Dann kam der Nationalstaat, der uns auch die Demokratie brachte. Und jetzt im modernen Europa geht es darum, dass wir zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa werden.

Stuttgarter Zeitung: Die Kanzlerin ist sehr populär, weil sie eine Schuldenvergemeinschaftung abwehrt. Und Sie glauben, mit einer Abgabe von noch mehr Souveränitätsrechten punkten zu können?

Winfried Kretschmann: Da bin ich mir ganz sicher. Wenn ich mit den Leuten diskutiere und ihnen klarmache, dass unsere Prosperität heute schon von Europa abhängt, verlaufen die Diskussionen sofort anders. Ich erinnere an die Schweiz, die ihren Franken an den Euro angekoppelt hat, da sie sonst riesige Probleme mit ihrer Exportwirtschaft bekommen hätte. Und die wilde Debatte über das Steuerabkommen zeigt doch, dass es eine europäische Lösung braucht. Frankreichs Mali-Einsatz schreit nach einer europäischen Armee. Auch wenn das noch Zukunftsmusik ist: Es muss in diese Richtung gehen.

Stuttgarter Zeitung: Und die Kanzlerin geht Ihnen zu langsam?

Winfried Kretschmann: Die Bundeskanzlerin ist eine gute Handwerkerin der Krise. Aber wenn wir nicht sagen, warum es wohin gehen soll, dann bekommen wir Europamüdigkeit oder noch Schlimmeres. Wir brauchen eine Vision: Welches Europa streben wir an? Wo geht die Gesellschaft hin? Wo geht die Wirtschaft hin? Für mich ist das nachhaltiges Wirtschaften ohne die Lebensgrundlagen zu zerstören – und da sind wir in Europa weiter als überall sonst auf der Welt.

Stuttgarter Zeitung: Von der Vision in die Mühen der Ebene: Sie kämpfen für eine andere Agrarreform.

Winfried Kretschmann: Wir begrüßen den Vorschlag der EU-Kommission für eine Ökologisierung der Landwirtschaft. Und wir sind sehr verärgert darüber, dass die Bundesregierung in Brüssel nicht im Sinn eines gemeinsamen Beschlusses mit den Bundesländern verhandelt. Uns ist auch die sogenannte zweite Säule der EU-Agrarpolitik, dass nämlich Geld in die ländlichen Räume fließt, unglaublich wichtig. Da geht es um den Erhalt der Landschaft, der Artenvielfalt, um die Voraussetzungen für eine gute, regionale Küche. Wenn das nun wegfallen oder auch nur deutlich gekürzt würde, könnten wir das als Landesregierung nicht ersetzen.

Stuttgarter Zeitung: Das hängt auch vom Ergebnis des EU-Haushaltsgipfels nächste Woche ab. Da hält es die Kanzlerin mit den Briten, die den Brüsseler Etatvorschlag zusammenstreichen wollen.

Winfried Kretschmann: Ich rede am Freitag mit ihr darüber. Die britische Denkweise „Wer bekommt was raus?“ darf für uns kein Vorbild sein. Wir können doch nicht mehr Europa mit weniger Geld machen. Wir müssen die EU so ausstatten, dass den Staaten, die in einen Abwärtssog geraten sind, wieder auf die Beine geholfen wird. Das ist nicht nur Menschenliebe, sondern unser vitales Eigeninteresse. Kommen diese Länder nicht hoch, können sie eben die tollen Produkte aus Baden-Württemberg nicht kaufen.

Stuttgarter Zeitung: So positiv von Europa wie Sie reden nur wenige. Wollen Sie vielleicht auch in Brüssel Günther Oettinger nachfolgen?

Winfried Kretschmann: Ich denke, wir sollten nicht mehr nach dem Grundsatz verfahren: „Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa“. Am Ende der Legislaturperiode bin ich 67. Statt dann eine europäische Karriere zu starten, würde ich dann lieber noch einmal kandidieren und, wenn der Wähler und die Wählerin das will, Ministerpräsident bleiben.

Das Interview führte Christopher Ziedler.

Quelle:

Stuttgarter Zeitung
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