Interview

Europa braucht Visionen

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Foto: dpa)

Die Europäische Union ist ein großes Friedens- und Freiheitsprojekt, betont Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die Krise in der Ukraine zeige umso deutlicher, wie wichtig ein vereintes Europa sei.

dpa: Warum schaffen es die politischen Akteure nicht, das Europa-Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu stärken?

Winfried Kretschmann: Es wird zu technokratisch über Europa gesprochen. Die große Idee dahinter, die Vision eines Vereinigten Europas, sie wird nicht zum Ausdruck gebracht. Das hat teils sicher mit den Krisen, der Finanzmarktkrise vor einigen Jahren, jetzt die Eurokrise zu tun. Die drängen sich auf und müssen nun mal bewältigt werden. Aber es liegt auch an Frau Merkel. Sie ist zweifellos eine gute Krisenmanagerin, aber wo sind ihre Visionen?

dpa: Jetzt haben wir eine Krise in der Ukraine, wo am Tag der Europawahl ein neuer Präsident gewählt werden soll. Was bedeutet das für uns?

Kretschmann: Ich hoffe, dass die Menschen mit der Ukraine-Krise jetzt wieder deutlicher sehen, dass Europa auch ein großes Friedens- und Freiheitsprojekt ist. Wir haben dank Europa fast 70 Jahre Frieden statt grausame Kriege, und Demokratie statt Diktatur. Das betrachtet man im Kerneuropa heute gern als selbstverständlich, merkt aber nun, dass dies in keiner Weise selbstverständlich ist.

dpa: Passen denn die Haltung der EU zur Vorratsdatenspeicherung oder die Flüchtlingspolitik zu einem Freiheitsprojekt?

Kretschmann: Ich denke, dass wir in Europa in vielen Fragen der Bürgerrechte oder Verbraucherrechte ein ganzes Stück weiter sind als andere. Sicher sollte sich Brüssel mehr zurückhalten in Fragen der Daseinsvorsorge und sich mehr auf die großen, grenzüberschreitenden Themen konzentrieren. Wir brauchen mehr Subsidiarität – das heißt, auf der richtigen Ebene, also Kommunen, Land, Bund, Europa, die Kompetenzen anzusiedeln und die Entscheidungen zu treffen, die dort passen. Europa muss seine Flüchtlingspolitik humaner gestalten. Dass wir Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen, ist einfach skandalös. Das zeigt, dass Europa auch ein Europa der Werte und nicht nur des Freihandels sein muss.

dpa: Welche strukturellen Reformen im EU-Gefüge sind aus Ihrer Sicht vorrangig, um mehr Beteiligung und Transparenz in Brüssel zu ermöglichen?

Kretschmann: Europa muss neu und demokratisch begründet werden. Dazu gehört ein Europäisches Parlament als vollwertige direkte demokratische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger. Die Kommission muss zu einer echten europäischen Regierung weiterentwickelt werden. Transparenz und die Legitimation der Institutionen müssen gestärkt und nicht geschwächt werden. Diesbezüglich wünsche ich mir von Bundeskanzlerin Merkel mehr klare Ansagen.

dpa: Ihr Vorvorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, Günther Oettinger, ist nach Brüssel gegangen. Können Sie sich auch vorstellen, einmal Europapolitik in der Kommission oder im Parlament mitzugestalten?

Kretschmann: Nein. Ich bin mit ganzer Leidenschaft Ministerpräsident. Und das, immer vorausgesetzt ich bleibe gesund, sicher noch zwei Jahre lang und hoffentlich noch länger, wenn wir die nächsten Wahlen gewinnen.

Quelle:

dpa/lsw
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