Flüchtlinge

„Es fehlt jetzt nur noch Europa“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei einem Interview (Foto: dpa)

Im Interview mit der Südwest Presse zeigt sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann zufrieden mit den Ergebnissen des Flüchtlingsgipfels von Bund und Ländern. Im Land will er nun Vieles rasch umsetzen, von Europa erwartet er aber deutlich mehr Solidarität in dieser Frage.

Südwest Presse: Wie bewerten Sie die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels?

Winfried Kretschmann: Ich bin zufrieden. Dass es zu diesem Kompromiss gekommen ist, auch wenn wir hart verhandelt haben und jeder Dinge schlucken musste, die für ihn schwierig waren. So ein überparteilicher Kompromiss ist ein enorm wichtiges Signal: Damit zeigt die Politik, dass die viel beschworene Verantwortungsgemeinschaft nicht nur irgendein Sonntagsspruch ist. Die demokratischen Parteien, Bund, Länder und Kommunen ziehen an einem Strang. Es fehlt jetzt nur noch Europa.

Was ist aus Landessicht der wichtigste Beschluss des Gipfels?

Kretschmann: Wichtig für Baden-Württemberg ist, dass der Bund bei den Kosten für Flüchtlinge in die strukturelle Mitfinanzierung einsteigt. Damit erfahren wir als Land und unsere Kommunen eine dringend nötige finanzielle Unterstützung. Und wir können unseren Plan, 2015 und 2016 einen ausgeglichenen Jahresetat vorzulegen, beibehalten.

Als Grüner hatten Sie spezielle Anliegen. Was konnten Sie durchsetzen?

Kretschmann: Der beschlossene Ausbildungs- und Beschäftigungskorridor für Menschen aus dem Westbalkan ist für uns Grüne ein wichtiger Erfolg. Damit haben wir das Tor für legale Einwanderung geöffnet. Das hilft, den Druck auf das Asylsystem zu verringern. Zugleich ist es ein sichtbarer Schritt hin zu einem Einwanderungsgesetz.

Was ist mit der Gesundheitskarte?

Kretschmann: Die Gesundheitskarte war uns sehr wichtig, wir werden sie in Baden-Württemberg einführen. In unserer Zivilisation sollte es zu den Mindeststandards gehören, dass ein Arzt bestimmt, ob man krank ist und nicht – wie bisher – ein Verwaltungsbeamter. Der Leistungskatalog wird dabei nicht verändert, sondern bleibt eingeschränkt. Die Gesundheitskarte wird die Kommunen von bürokratischem Aufwand entlasten und Kosten senken.

Wo hätten Sie sich mehr Bewegung gewünscht?

Kretschmann: Wir wollen die Vorrangprüfung abschaffen, die Betrieben vorschreibt, dass sie in vielen Fällen erst nachweisen müssen, dass kein EU-Bürger für den Job in Frage kommt, bevor sie einen Flüchtling einstellen dürfen. Da konnten wir uns leider nicht gegen die große Koalition durchsetzen, auch wenn viele Ministerpräsidenten und die Wirtschaft das genau so sehen.

Die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer tragen Sie mit?

Kretschmann: Das Thema wird generell überschätzt. Einerseits muss man nicht glauben, dass dieser Beschluss große Effekte haben wird. Andererseits wird durch die Ausweisung von sicheren Herkunftsländern das Asylrecht nicht ausgehöhlt. Das führt nur zu minimal kürzeren Verfahren. Aber er war unionsgeführten Ländern wichtig. Mit Blick auf das Gesamtpaket kann ich das mittragen.

Baden-Württemberg stimmt dem Asylkompromiss im Bundesrat zu?

Kretschmann: Ja, wir werden zustimmen, natürlich vorausgesetzt, der erzielte Kompromiss findet sich so im Gesetzentwurf wieder.

Was stimmt Sie zuversichtlich, dass die Asylverfahren nun rascher abgearbeitet werden können?

Kretschmann: Der Bund hat sich im gestrigen Beschluss dazu verpflichtet, die Asylverfahren zu verkürzen und den Zeitraum zwischen Registrierung und Antragstellung zu verkürzen. Außerdem wurde die finanzielle Beteiligung des Bundes so gestaltet, dass der Bund weniger zahlen muss, wenn die Verfahren schneller werden. Er hat damit einen echten Anreiz. Wir können unser Verteilmodell mit der zentralen Registrierungsstelle in Heidelberg umsetzen und bekommen dafür die entsprechenden Entscheider für die Asylanträge vom zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Wichtig ist auch die Zusage des Bundes, 500 Millionen Euro für den Wohnungsbau freizugeben. Darauf habe ich sehr gedrungen. Wir müssen dringend rasch und mit Verve in den Wohnungsbau für Flüchtlinge einsteigen.

Da reichen die 500 Millionen Euro bundesweit?

Kretschmann: Wir müssen auch privates Kapital für den Bau von Wohnungen für Flüchtlinge mobilisieren. Das könnten wir nicht nur durch Maßnahmen der öffentlichen Hand lösen. Daher soll eine steuerliche Erleichterung für Investitionen in diesem Bereich kommen. Da müssen wir gemeinsam – Bund, Land, Kommunen – schnell maßgeschneiderte Pakete schnüren.

Schnellere Verfahren heißt im Zweifel auch: schnellere Abschiebungen?

Kretschmann: Viele abgelehnte Asylbewerber können aktuell nicht rückgeführt werden, weil sie zum Beispiel keinen Pass haben. Der Kompromiss beinhaltet nun eine alte Forderung von mir, die Zweit-Pass-Beschaffungsstelle. Das muss der Bund schnell umsetzen, damit wir diejenigen, die abgelehnt werden, schnell zurückführen können. Wir setzen nach wir vor bevorzugt auf die freiwillige Ausreise, schieben ansonsten aber auch konsequent ab. Wer zu einem bestimmten Datum vollziehbar ausreisepflichtig ist und sich der Rückführung bewusst entzieht, für den entfallen künftig die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Damit werden sie EU-Bürgern gleichgestellt, die bei uns keine Arbeit haben - und eben auch keine Sozialleistungen erhalten.

Werden sich die Beschlüsse auf die Zahl der Flüchtlinge auswirken?

Kretschmann: Das kann ich nicht sagen. Ich rechne eher damit, dass die Zahl der Flüchtlinge noch zunimmt. Wir können nur darauf bauen, dass ganz Europa sieht: Deutschland nimmt die Herausforderung an, die demokratischen Parteien ziehen an einem Strang, um die Probleme in einem geordneten Prozess zu bewältigen. So kann Deutschland Druck auf andere Staaten ausüben, sich ebenfalls solidarisch zu zeigen. Die beschlossene Verteilung von 120.000 Flüchtlingen auf die EU-Staaten kann ja nur ein Anfang sein.

Deutschland braucht Europa?

Kretschmann: Die Bewältigung der Massen an Flüchtlingen können nur Europa und andere Industrienationen gemeinsam lösen. Vor allem die EU ist da gefordert, sonst wird die europäische Krise viel größer als beim Streit um die Hilfen für Griechenland. Wir wollen mit diesem Kompromiss Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrücklich den Rücken stärken, damit sie den Druck auf unwillige Staaten erhöhen kann. Das gelingt ihr ja auch Zug um Zug. Polen ist bereits aus der Ablehnerfront raus. Wir brauchen mehr solcher politischer Prozesse. Von Zäunen lassen sich Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, letztlich nicht abhalten.

„Wir schaffen das”, Merkels Satz, gilt nur mit Einschränkung?

Kretschmann: Ja. Wir schaffen das – mit der Hilfe und Solidarität ganz Europas. So hat es die Kanzlerin ja auch gemeint.

Wieso sind auf dem Gipfel eigentlich die Regionalisierungsmittel – Gelder, die der Bund den Ländern für den Schienenverkehr gibt – mitverhandelt worden?

Kretschmann: Wir müssen ja immer aufpassen, dass der Bund uns die Gelder, die er uns an der einen Stelle zusätzlich gibt, uns an anderer Stelle nicht wieder abzieht. Wir haben sogar erreicht, dass Baden-Württemberg künftig einen größeren Anteil erhält.

Quelle:

Südwest Presse
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