Interview

„Die Fluchtursachen endlich angehen“

Peter Friedrich, Minister für Bundesrat, Europa und internationale Angelegenheiten (Bild: © dpa)

Baden-Württemberg plant eine Patenschaft mit einer Region im Nordirak. 1,5 Millionen Flüchtlinge leben dort. Ziel ist, deren Lebensbedingungen zu verbessern. Sonst werden auch diese Menschen nach Europa kommen, sagt Europaminister Peter Friedrich.

Sonntag Aktuell: Herr Friedrich, Baden-Württemberg gibt bereits viel Geld für Flüchtlinge im Land aus. Warum jetzt auch für Flüchtlinge, die sich Irak befinden?

Peter Friedrich: Wenn wir nicht endlich verstärkt die Fluchtursachen angehen, werden die Flüchtlinge, die sich heute in Ländern wie dem Irak befinden, in kurzer Zeit nach Europa kommen. Mit diesem Projekt können wir mit wenig Mitteln viel für die Flüchtlinge erreichen. Denn die Kosten, die entstehen, damit die Menschen im Irak bleiben, sind geringer als die Kosten, die anfallen, wenn sie erst einmal zu uns nach Deutschland gekommen sind.

Warum haben Sie sich für die Patenschaft Nordirak ausgesucht?

Friedrich: Wir haben eine ganze Reihe von Gesprächen geführt, in denen es um die Frage ging, in welcher Region wir mit solch einer Patenschaft am meisten erreichen können. Dabei hat sich herausgestellt, dass vieles für Nordirak spricht. Dort gibt es handlungsfähige Verwaltungsstrukturen. Den Behörden fehlen schlicht die Mittel, um sich angemessen um die hohe Anzahl an Flüchtlingen zu kümmern. Wir können dort zudem an bestehende Kontakte anknüpfen, da es bereits ein Flüchtlingsprogramm für Jesidinnen aus der Region gibt. Vor zwei Jahren war außerdem Wirtschaftsminister Nils Schmid bereits vor Ort.

Wie viele Flüchtlinge leben dort?

Friedrich: In den politisch relativ stabilen kurdischen Autonomiegebieten leben derzeit rund 1,5 Millionen Flüchtlinge. Gemessen an der Gesamtbevölkerungszahl von gerade mal fünf Millionen Menschen ist das eine große Anzahl. Die meisten Flüchtlinge befinden sich in der Region Dahuk. Darum werden wir unsere Patenschaft voraussichtlich mit dieser Region eingehen.

Wie kann die Hilfe aussehen, die Baden-Württemberg dort konkret leistet?

Friedrich: Wir analysieren derzeit mit den Behörden sowie den internationalen Organisationen, die bereits vor Ort sind, welchen Bedarf es in welchen Bereichen gibt. Es ist nicht so, dass wir am grünen Tisch definieren, was wir geben wollen – und dass die Menschen vor Ort damit dann klarkommen müssen.

In welchen Bereichen gibt es den größten Bedarf an Unterstützung?

Friedrich: Ein großes Problem stellt für die Region im Moment die Abfallentsorgung dar. In manchen Städten hat sich die Zahl der Bewohner plötzlich verdoppelt, dafür ist überhaupt nichts ausgelegt. Hier können wir konkret Hilfe leisten, indem wir etwa Müllentsorgungsfahrzeuge zur Verfügung stellen. Auch Schulbusse sind Mangelware. Viele Flüchtlingskinder können nicht am Schulunterricht teilnehmen, da sie keine Möglichkeit haben, dorthin zu gelangen.

Wie viele Kinder betrifft das?

Friedrich: Derzeit kann nur jedes 20. Kind aus der Region eine Schule besuchen. Die Experten vor Ort fürchten, dass dies eine verlorene Generation ist. Auch bei der Energie- und Gesundheitsversorgung können wir die Region unterstützen. Konkret wird beispielsweise Hilfe dabei benötigt, eine orthopädische Praxis aufzubauen, in der Prothesen hergestellt werden. Mittelfristig geht es auch darum, vor Ort Arbeitsplätze und wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen.

Welche Mechanismen gewährleisten, dass die Hilfe auch bei den richtigen Leuten ankommt?

Friedrich: Die Unterstützung besteht ja vor allem in technischer und logistischer Hilfe und in der Unterstützung durch Know-how. Ziel ist es nicht, einfach Geld in die Region zu pumpen.

Warum übernehmen Sie die Patenschaft für eine ganze Region und nicht für einzelne Camps?

Friedrich: Weil sich 90 Prozent der Flüchtlinge im Nordirak gar nicht in den Lagern befinden. Außerdem könnte es zu sozialen Spannungen führen, wenn wir nur die Flüchtlinge in den Camps unterstützen, nicht aber die Bewohner der Region.

Warum leben so viele Flüchtlinge jenseits der Camps?

Friedrich: Wenn die Flüchtlinge oder Vertriebenen nicht bei Verwandten untergekommen sind, leben sie teilweise auf der Straße oder in den Slums. Es gibt schlicht nicht genügend Unterbringungsmöglichkeiten. Man darf sich die Situation dort nicht so vorstellen wie bei uns. Die Abläufe sind chaotisch. Die Menschen kommen einfach und siedeln sich an. Für so eine große Zahl an ständig nachkommenden Menschen ist es nicht möglich, kurzfristig neue Lager aufzubauen.

Soll die Patenschaft ein Einzelprojekt bleiben?

Friedrich: Ich hoffe, dass die Patenschaft Vorbildcharakter auch für andere Bundesländer entwickelt. Wenn deutsche Partner zeigen, dass sie vor Ort helfen, ist dies das beste Argument für die Flüchtlinge, dort zu bleiben. Das ist insbesondere vor dem heraufkommenden Winter entscheidend. Wenn sich andere Bundesländer und europäische Länder auch an solchen Projekten beteiligen, wäre dies das beste Instrument, um Fluchtursachen entgegenzuwirken. Das ist mir von vielen Experten vor Ort bestätigt worden.

Quelle:

Sonntag Aktuell
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